Wie in jedem Jahr gab es auch 2024 wieder Bücher, die uns Rezensentinnen und Rezensenten besonders gut gefielen. Bücher, die aus dem Üblichen hervortreten, weil sie berühren, weil sie unterhalten, weil sie ausgesprochen spannend sind oder sehr witzig, ausnehmend gut geschrieben oder schlicht etwas Besonderes.
Diese Bücher, die uns mehr als andere beeindruckten, sind es, die wir am Ende des Jahres immer noch in guter Erinnerung haben. Aus diesem Grund stellen wir sie im Special zu Silvester noch einmal vor.
Olivia Grove
Bereit für einen Thriller, der dich packt und sich tief in deine Seele gräbt?
In „Verirrt“ von Michaela Kastel flieht Felizitas mitten in der Nacht mit ihrer kleinen Tochter vor ihrem gewalttätigen Mann und sucht Zuflucht im abgelegenen Haus ihrer Mutter – versteckt im düsteren Wald am See.
Die mysteriöse Waldkulisse verstärkt das unheimliche Gefühl, das wie dichter Nebel durch die Story zieht.
Ein atmosphärischer Thriller, der psychologische Spannung mit Nervenkitzel verbindet, mit mystischen Vibes die Grenze zwischen Realität und Albtraum verschwimmen lässt und noch lange nachwirkt.
Sabine Bovenkerk-Müller
„Man hat uns das Leben gestohlen, Lopatin … und in fünfzig Jahren weiß keiner mehr, dass es uns gab.“ (S. 340)
Anja, Milka und ihr Freund Trifonow stehen auf der falschen Seite. Ihre Intelligenz ist in dem russischen System unerwünscht. Genauso wie unbequeme Fragen und Einstellungen.
Die Autorin Kristina Gorcheva-Newberry erzählt in ihrem Roman Das Leben vor uns eine traurig-schöne Geschichte über Freundschaft.
Die Autorin Kiran Millwood Hargrave zeigt in ihrem Jugendroman Leila und der blaue Fuchs die Annäherung zwischen Leila und ihrer Mutter Amani während einer Forschungsreise in die Arktis. Anfangs versteht sie die auferzwungene Trennung noch nicht. Warum ist ihre Mutter nach der Flucht nicht bei ihr in London geblieben? Und warum lebt sie ausgerechnet in der Kälte? Diese und weitere Fragen bleiben in Leilas Kopf, als sie sich auf das Wiedersehen einstellt. Ihre Mutter ist eine andere geworden und Leila auch.
Annegret Glock
Mein Buchhighlight für 2024 heißt definitiv Lass uns doch noch etwas bleiben von Lionel Shriver. Warum? Ganz einfach, weil mich selten ein Buch so nachdenklich gemacht, wie amüsiert hat. Lionel Shriver beleuchtet darin das Thema „Alter und Altern“ in einer scharfsinnigen Komplexität, die einfach begeistert. In verschiedenen weitsichtigen Thesen lässt die Autorin ihre Figuren realitätsnah und dabei humorvoll, feinsinnig und skurril agieren.
Rena Müller
Calla Henkel: Ein letztes Geschenk
Ein echtes Überraschungshighlight – spannend, verblüffend, wendungsreich, lesenswert
Die Geschichte um Esther, eine faszinierende Frauenfigur, schillernd, chaotisch, mal schrill, mal verzweifelt, ist voller Kapriolen, Wendungen, Höhepunkten und Spannung. Und dann, nach einer temporeichen Story, ist das Ende des Romans vollkommen unvorhersehbar und absolut genial.
Liz Nugent: Seltsame Sally Diamond
Sally Diamond wächst bei Adoptiveltern auf. Die Mutter ist bereits verstorben, nun erliegt auch der Adoptivvater seiner Krankheit. So wie er es gewünscht hat, verfrachtet sie seine Leiche in die Mülltonne und verbrennt ihn.
So beginnt dieser Roman, der einen dermaßen in seinen Bann zieht, dass man ihn geradezu verschlingt und vor allem diese beeindruckende Figur der Sally, die sich selbst als „sozial defizitär“ bezeichnet, so schnell nicht wieder vergessen wird.
Ann Patchett: Der Sommer zu Hause
Ein Wohlfühlroman der Meisterklasse – ohne Drama, ohne Action, aber wunderschön
Ann Patchett erzählt behutsam, mit Humor und Melancholie, mit Einfühlsamkeit und Präzision von einem Sommer auf dem Land, auf einer Kirschplantage in Michigan, während der Pandemie. Und sie erzählt von einer toxischen Beziehung, von Schauspielern. Von Freundschaft und Familienglück, von Ehrlichkeit und von Träumen, von solchen, die wahr werden und anderen, die verborgen bleiben.
Francesca Segal: Willkommen auf Tuga
Roman mit hohem Wohlfühlfaktor. Dieser Roman vereint alles, was eine fesselnde Geschichte braucht: Interessante Schauplätze, eine in sich geschlossene Gemeinschaft, sympathisches Personal, sachter Handlungsaufbau, eine subtile Spannung, Humor, Gefühl und ein bisschen Liebe. Es geschieht fast nur Alltägliches, keine Dramen, keine Action, kein Klamauk, alltägliche Kleinigkeiten, Zwists, Liebe, Trauer, Freude, Verlust, Eifersucht, alles, was wir aus dem eigenen Leben kennen. Es gibt viele große und kleine Ereignisse, reichlich Herzensverwirrung, Sorgen und Freuden, Streit und tiefe Freundschaft.
Fesselndes, auf wahren Ereignissen beruhendes Drama um einen jungen Mann, der über Jahre in einem Haus lebte, ohne es je zu verlassen.
Der Roman ist ganz wunderbar sanft, fast zärtlich geschrieben. Man gleitet durch die Seiten, verfolgt atemlos die spannende Geschichte Williams, möchte Helen anschubsen, sich von ihren Fesseln und (noch) zeitgemäßen Dünkeln zu befreien.
Der Schreibstil von Clare Chambers ist unglaublich warmherzig, voller Empathie, immer mit ganz leisem Humor, als wolle sie die Schrullen ihrer Figuren zeigen, aber nie verurteilen. So erschafft sie liebenswerte, lebensechte Charaktere, deren Handlungen stets folgerichtig sind.
Katja Plattner
Eines meiner Highlights 2024 ist das Buch Binding 13 von Chloe Walsh, sie hat mit dem Buch etwas Großes, Emotionales, Gefühlvolles und Besonderes erschaffen
Wir treffen hier mit Shannon und Johnny zwei total unterschiedliche Charaktere –sie ist das schüchterne Mädchen, das es nicht leicht hat, er der berühmte Rugbyspieler der es sich nach einem kleinen Unfall zur Aufgabe machte Shannon zu beschützen- die dennoch so gut zusammen passen. Trotz der vielen Seiten wurde das Buch nie langatmig und die Storyline hielt sich konstant aufrecht.
Carsten Kuhr
Scott Hawkins: Die Bibliothek am Mount Charr
Bevölkert von unvergesslichen Charakteren und angetrieben von einem Plot, der mich ein ums andere Mal überrascht, der mich mit seinen Wendungen immer wieder schockiert hat, ist „Die Bibliothek am Mount Char“ gleichzeitig erschreckend, schockierend und dann wieder urkomisch, umwerfend fremdartig aber auch herzzerreißend menschlich, darüber hinaus mitreißend visionär und wirklich unglaublich spannend.
Karina Luger
Djaili Amadou Amal: Die ungeduldigen Frauen
Das Volk der Fulbe in Kamerun lebt nach streng muslimischen Gesetzen. Polygamie ist Normalität. Das ist ein kaum zu ertragender Umstand für Ramla, die mit siebzehn Jahren einen Fünfzigjährigen heiraten muss, dessen Erstfrau Safira, die deswegen von ihrem Gatten aufs Abstellgleis gestellt wird und für Ramlas kleine Schwester Hindou, die ein wahres Martyrium erleidet. Und immer wird den Frauen eingetrichtert, sie müssen geduldig sein. „Munyal“, daraus besteht ihr Leben. Ein erschütterndes Buch.
Zwei Frauenschicksale, lose verknüpft in einem kleinen Dorf in Süddeutschland 1971. Roberta liebt Gertruds Sohn Wilhelm. Roberta ist nach einer Schneiderlehre auf den Hof ihrer Eltern zurückgekehrt, Gertrud, die Gattin des Pfarrers, will aus der Enge nur weg. Die Dinge nehmen einen dramatischen Lauf.
Verena Dolovai: Dorf ohne Franz
Schonungslos schildert die Autorin das Schicksal der Bauerntochter Maria in der österreichischen Provinz in den 1960-er Jahren. Sie, die Duldsame, Pummelige, Fleißige bekommt als Heiratskandidaten nur einen Alkoholiker ab. Damit ist ihr Schicksal besiegelt. Ohne Berufsausbildung oder höheren Schulabschluss hat sie keine Chance, dem patriarchalischen Würgegriff zu entkommen.
Kommissar Wallner von der Kripo Miesbach müht sich wieder einmal ab mit Polizeihauptmeisters Kreuthner und seinen krummen Machenschaften. Spritzige Dialoge, skurrile Figuren und eine witzige Story!
Marie-Helene Lafon: Die Quellen
Ein Bauer in der Avergne schlägt 1967 jeden Samstag seine Frau. Es findet sich immer ein Grund. Die Kinder sind groß genug, diesen Wahnsinn zu begreifen. Die Frau will nicht enden wie die einzige Geschiedene im Dorf, die wie eine Aussätzige behandelt wird. Während eines Besuches bei ihren Eltern beschließt sie allerdings, nicht mehr mit auf den Hof zu kommen. Marie-Helene Lafon zählt zu den markantesten literarischen Stimmen Frankreichs.
Andreas Schröter
Joachim Meyerhoff: Man kann auch in die Höhe fallen
Joachim Meyerhoff feiert mit seiner autobiografischen „Alle-Toten-fliegen-hoch“-Reihe große Erfolge. Die Bücher wirken authentisch und ehrlich. Dem heute 57-Jährigen gelingt es, auch traurige und ernste Inhalte so darzustellen, dass sie immer auch viel Humor in sich tragen. Sein neuestes Werk mit dem etwas sonderbaren Titel „Man kann auch in die Höhe fallen“ macht da keine Ausnahme.
Strunk spielt gekonnt mit den Motiven aus dem Ur-Zauberberg. Ein Philosoph, der hier aber nur unzusammenhängende Weisheiten von sich gibt, kommt genauso vor wie das berühmte Türenschlagen im Speisesaal, das eine so große Wirkung auf Hans Castorp hat. Dennoch bleibt der Roman Strunk-typisch durch und durch. Er ist bei aller Tragik der Handlung witzig und beweist die hervorragende Beobachtungsgabe und Menschenkenntnis des Autors.
J. Courtney Sullivan: Die Frauen von Maine
Der Roman wirkt hervorragend recherchiert, lässt sich dabei aber leicht lesen. Damit reiht er sich bestens ein in die Reihe anderer Romane der Autorin (u.a. „Sommer in Maine“, „Die Verlobungen“). Der Autorin gelingt es zudem, lebendige und komplexe Charaktere zu erschaffen, deren persönliche Kämpfe und Erfolge berühren. Jane ist eine Person mit Ecken und Kanten, die nicht durchweg positiv geschildert wird.
Jay Kristoff: Das Reich der Verdammten
Jay Kristoffs Saga ist überbordend in jeder Hinsicht: grausam, brutal, blutig, tödlich, irre lang, sprachlich extrem rau und zugleich voller Gefühl. Das alles geschieht mit einer Wucht, die ihresgleichen sucht. Immer wieder kommt es zu Schlachten mit großem Gemetzel. Wer das weniger mag, für den ist diese Romanreihe womöglich nichts. Alle anderen werden sie mit vor Faszination offen stehendem Mund verschlingen.
Wow, was für ein großartiger, begeisternder, vielschichtiger, reichhaltiger und intelligenter Roman! Der 1975 geborene amerikanische Schriftsteller Nathan Hill legt nun mit „Wellness“ ein ähnlich fulminantes und rundum überzeugendes Werk vor wie bereits 2016 mit „Geister“.
Kerri Maniscalco: Hunting Prince Dracula
Kerri Maniscalco, eine Autorin aus New York City, spielt gekonnt mit allen Zutaten, derer sich auch schon Bram Stoker für seinen legendären Roman „Dracula“ bediente. Es gibt Kutschfahrten in den eisig-kalten Karpaten, Wölfe, Holzpflöcke und jede Menge Blut. Sogar Briefe – wie im Ur-Dracula – kommen vor. Das alles ist spannend und für die Fans von Vampir-Geschichten, die in alten Burgen spielen, ein Genuss.
Sabine Sürder
„Demon Copperhead“ von Barbara Kingsolver geht zu Herzen, reißt mit, wühlt auf. Und ist Literatur im besten Sinn. Wenn mich nicht alles täuscht, dann hat dieser „Demon Copperhead“ nicht nur das Zeug zum Pulitzer-Prize-Gewinner, sondern auch, wie sein Vorgänger „David Copperfield“ von Charles Dickens, zum modernen Klassiker.
Joy Williams’ Debütroman „In der Gnade“ ist eine späte Entdeckung für die deutschen Leserinnen und Leser, aber besser spät als nie. Denn der Text, vor 50 Jahren geschrieben, wirkt weder überholt noch veraltet, Williams’ Sprache ist zeitlos modern.
Saša Stanišić schreibt meisterlich außergewöhnlich und damit ganz herrlich erfrischend und wunderbar leicht: „Möchte die Witwe angesprochen werden, platziert sie auf dem Grab die Gießkanne mit dem Ausguss nach vorne“ ist ein Buch wie eine „Anprobe“. Bitte unbedingt lesen, aber „Bitte der Reihe nach“.
Isabella Banger
Pascale Lacelle: Curious Tides
Das magische Ambiente von Meerwasser und Mondphasen lässt einen beim Lesen förmlich das Salz in der Luft schmecken und das Rauschen von Wellen hören! Eine neue, kreative Fantasy-Welt, die sich nicht an alten Mustern orientiert und eines der atmosphärischsten Bücher, die ich seit langem gelesen habe.
Miriam muss herausfinden, wer sie ermordet hat, nur leider war sie in ihrem Leben nicht nur eine begabte Ärztin, sondern auch eine sehr verbitterte Frau mit mehr Feinden, als sie aufzählen kann. Ein urkomisches und doch immer wieder emotional berührendes Buch!
Franzi Kopka: Honesty: Was die Wahrheit verbrigt
Jeder Bürger nimmt das Medikament Veritas, das dazu animiert, in jeder Situation die Wahrheit zu sagen. Wer denkt schon daran, dass keine Bücher mehr vorgelesen werden können, wenn man nicht mehr lügen kann? Dass es keine Kreativität, kein Theater, keine Kunst mehr gibt, die etwas anderes als die Realität abbilden?
Brandon Sanderson: Weit über der smaragdgrünen See
Tress ist ein ganz gewöhnliches Mädchen, das auf einer Felseninsel inmitten des smaragdgrünen Ozeans lebt. Sie ist ganz sicher keine Heldin und doch macht sie sich zu einem Abenteuer auf. Der Schreibstil ist herrlich innovativ und individuell, ein frischer Wind für das Genre! Es ist lustig, manchmal verwirrend und dabei immer spannend.
Elle Kennedy: Briar U-Reihe
Eine Reihe mit Potenzial, viele junge Frauen da draußen sehr selbstbewusst zu machen und unumstößlich zu empfehlen. Die Bücher bringen Spaß, haben Tiefe, einen heißen Sportler als Love-Interest, aber auch immer eine dunklere Seite, die berührend aufgearbeitet wird.
Elle Kennedy: The Chase: Briar U 01
Elle Kennedy: The Risk: Briar U 02
Regina Lindemann
Marissa Meyer hat sich endlich wieder den Märchenadaptionen zugewandt und mit „Gilded“ einen tollen Auftakt zur Interpretation von „Rumpelstilzchen“ geboten. Das wird in allen Bänden genauso ein Knaller wie ihre Luna-Bände, da bin ich ganz sicher.
Melanie Raabe hat ein Buch mit Fantasy-Anteil geschrieben, kein Thriller wie ihre übrigen Bücher, aber nicht weniger spannend. Genannt hat sie es „Der längste Schlaf“ und das hat durchaus einen Sinn.
Eine totale Neuentdeckung für mich war Heather G. Harris und ihre Doppelwelt. Magische Wesen existieren in beiden Welten nebeneinander und eben nicht in gleicher Gestalt und mit gleichen Fähigkeiten. Tolle Idee. In „Tod einer Nymphe“ geht es nur sehr vordergründig um einen Mordfall.
Etwas ging dieses Jahr nach langer Zeit zu Ende. Die Geschichte von Gereon Rath, dem ehemaligen Kommissar in den 20er und 30er Jahren in Berlin, die Volker Kutscher vor mehr als 10 Jahren erschaffen hat. Der letzte Roman heißt einfach „Rath“ und das hat durchaus eine Doppelbedeutung.
Diana Wieser
Das Buch, das mich 2024 am meisten mitgerissen und erschüttert hat, ist Das Lied des Propheten von Paul Lynch, ausgezeichnet mit dem Booker Prize. Es beschreibt den sozialen Abstieg der sechsköpfigen Familie rund um die Molekularbiologin Eilish unter einer rechtsnationalen Regierung in Irland. Überwachung durch den Geheimdienst, gesellschaftliche Ausgrenzung, Folter, Bürgerkrieg: Paul Lynch holt in seiner „realen Dystopie“ die Schrecken, die in anderen Ländern Realität sind, mitten in die EU. Sprachlich atemlos erzählt, mit starken Bildern, die nicht mehr aus dem Kopf gehen.
Ein Special von Rena Müller mit Beiträgen von Olivia Grove, Sabine Bovenkerk-Müller, Annegret Glock, Katja Plattner, Carsten Kuhr, Karina Luger, Andreas Schröter, Sabine Sürder, Isabella M. Banger, Regina Lindemann und Diana Wieser.