„Man hat uns das Leben gestohlen, Lopatin … und in fünfzig Jahren weiß keiner mehr, dass es uns gab.“ (S. 340)
Anja und Milka wachsen hinter dem Eisernen Vorhang auf. Schon in jungen Jahren spüren sie in einem Randgebiet von Moskau eine Enge. Alles sieht ähnlich aus. Die Kleidung, die Wohnungen, die Möbel, überall herrschen die Töne grau-braun. Auch in den Köpfen sollen die gleichen Gedanken sein. Während Anjas Eltern zu Hause politische Diskussionen führen, bevorzugen Milkas Mutter und ihr Schwiegervater Ausschweifungen. Aus diesem Grund ist Milka überwiegend bei Anja. Und die Sommerferien verbringen sie in der Datscha von Anjas Eltern.
Als Gorbatschow seine politische Reformation umsetzen will, sind Anja und Milka junge Frauen, die vom Reisen in den Westen träumen. Sie sehnen sich nach geistiger und körperlicher Freiheit. „Das neue Jahr war da – 1985. Es hatte uns einen neuen Präsidenten beschert, eine neue Regierung, ein neues Land.“ (S. 188) „Also tanzten wir und rauchten und rissen Witze und waren unendlich glücklich. Und wir fühlten uns frei: frei davon, erwachsen werden zu müssen, frei davon, lügen und schicksalverändernde Entscheidungen treffen zu müssen, frei von jeglicher Verantwortung. … Sex und Freundschaft – das größte Geschenk, das wir kennen würden.“ (S. 189)
Kristina Gorcheva-Newberry lebte in Moskau, studierte Englisch, um danach als Lehrerin und Dolmetscherin zu arbeiten. 1995 zog sie in die USA. Ihre Kurzgeschichten erhielten Preise. 2022 wurde ihr Debütroman von der New Yorker Post zu einem der besten Romane des Jahres gewählt. Auch in diesem Jahr hat dieser tiefgründige Roman diese Einschätzung verdient, denn er ist klug und leicht erzählt.
Bei der anrührenden und kurzweiligen Geschichte wird indirekt beschrieben, warum Putin so viele Anhänger hat. Durch das Spiel mit manipulierten Informationen ist ein Riss zwischen Ost und West entstanden. Viele Vorurteile gewinnen an Überzeugungskraft.
Die beiden Freundinnen sind – ohne es zunächst konkret zu wissen – zu einem Spielball eines strengen Systems geworden. Was sie spüren, sind Grenzen. Anja und Milka reiben sich an den Regeln und Bevormundungen des kommunistischen Systems, das Männer bevorzugt. Anjas Mutter lehrt sie: „Man lernt sich anzupassen, … zu manipulieren und sich etwas vorzumachen. Das Denken muss weiterfunktionieren, selbst wenn sich der eigene Körper so fremd anfühlt …“ (S. 190)
In Russland heißt Gleichheit für alle nicht automatisch, dass alle tatsächlich gleich sind. Ihr Freund Lopatin gehört zu der aufsteigenden Klasse, den neuen Reichen, dessen Familie früher Bauern waren. Seine Eltern haben in der Partei Karriere gemacht, sodass ihnen viele Annehmlichkeiten zustehen. Andere dagegen verloren. Diesbezüglich haben ihre Freunde Lopatin und Trifonow ständig Streit: „… Deine Leute haben genauso viel Schuld auf sich geladen wie meine … Alle waren Spitzel, alle haben gemordet, und alle haben Blut gepinkelt, wenn sie verhaftet wurden.“ (S. 210)
Anja, Milka und ihr Freund Trifonow stehen auf der falschen Seite. Ihre Intelligenz ist in dem russischen System unerwünscht. Genauso wie unbequeme Fragen und Einstellungen.
Um ihr kleines Maß an Freiheit zu behalten, beschließen die jungen Frauen, nie zu heiraten. Sie sehen zunächst nur die Zukunft, das Leben, das vor ihnen liegt. Die Generation Perestroika trägt jedoch auch die Vergangenheit in ihren Genen. Die Vergangenheit, das Leben vor ihnen, hängt wie ein schwerer Umhang auf ihren Schultern – bis zum letzten Atemzug.
Kristina Gorcheva-Newberry: Das Leben vor uns
Aus dem Englischen übersetzt von Claudia Wenner
Unionsverlag, Juli 2024
368 Seiten, Taschenbuch, 16,00 Euro
Diese Rezension wurde verfasst von Sabine Bovenkerk-Müller.