Jules fragt sich, ob er seine Mutter und Heimat eines Tages wiedersehen wird, „… und ein Zweifel überkommt ihn. Dann sucht er die tröstende Wärme der Wolle und versucht, die aufkommende Nostalgie und Schwermut zu verscheuchen.“ (S. 340)
Die vertikalen Landschaften seiner Jugend, die „ … Trois Reines und den Mont Calme, Riesen, die man da, wo er herkommt, mit Respekt betrachtet“, hat Jules unter anderem für die New Yorker Häuserschluchten verlassen. „Die Stadt erscheint ihm dreckig und brutal.“ (S. 340 und S. 341)
Zum Glück ihrer Leserschaft ist die Autorin Clara Arnaud angekommen. Sie hat ihre Heimat in Couserans, in den Pyrenäen, gefunden, nachdem sie Chinesisch und Geografie studierte und viele Jahre in China, im Kongo und in Honduras lebte. Die Liebe zu den Pyrenäen fokussiert sie auf eine bestimmte Region in ihrer neuen Heimat, dem Tal der Bärin.
Über viele Jahrzehnte wurden die Bären dort gejagt oder vertrieben, damit sie keine Schafe mehr reißen. Ein paar wagemutige Männer haben Bärinnen getötet, um ihre Jungen zu stehlen, aufzuziehen, um sie später am Nasenring führend zu dressieren. Einer von ihnen ist der Junge Jules, der todesmutig in die Bärenhöhle kriecht und eine junge Bärin stiehlt. Er will raus aus der Armut und sehnt sich nach Beachtung und Ruhm.
Etwa hundertdreißig Jahre später sind ein paar Bären in seine Heimat zurückgekehrt. Möglicherweise wurden sie angesiedelt, oder sie haben sich an den Lebensraum ihrer Ahnen erinnert. Nach so langer Zeit sind die Bewohner in Jules Dorf wieder wütend und zugleich verunsichert. Sie haben den Umgang mit Bären und anderen Wildtieren nicht gelernt. Die Schäfer, die in den Sommermonaten hoch in die Berge ziehen und damit in den Lebensraum einer Bärin gelangen, sind verunsichert und haben ebenfalls Angst. Denn im vergangenen Jahr gab es in der Herde eine Panik, bei der viele Schafe in den Abgrund stürzten und eine Schäferin mitrissen.
Ein Jahr später geht es im Frühsommer wieder hoch. Hitze, Trockenheit und Starkregen erschweren das Leben in den Bergen. Die veränderten Klimabedingungen und die drohende Nähe der Bärin gefährden die Schafzucht. Nur die Forscherin Alma kennt sich mit Bären aus. Sie glaubt, vor Ort helfen zu können, wenn man sie denn ließe.
Clara Arnaud erzählt in drei Erzählsträngen von der Schönheit einer Region, in der nichts leicht ist. Insbesondere starke selbstbewusste Frauen reiben sich an dem Starrsinn einiger Männer wund. Mit Hilfe der einfühlsamen Charaktere von Alma und Gaspard wird deutlich, wie schwer und schön die Verschmelzung mit der Natur ist. Beide begreifen, wenn sie in den Bergen bei den Tieren sind, müssen sie quasi selbst zu einer Art Tier werden, all ihre Sinne und Instinkte schärfen, bis sie ein tiefes Glück verspüren, das es im Kreis der Menschen nicht geben kann.
Eindrucksvoll und umfassend beschreibt die Autorin Lebensformen, die so weit weg von der Zivilisation sind, dass man bei der Lektüre einen Eindruck gewinnt, wie hoch der Preis und der Verlust einer ausufernden Kommerzialisierung sein kann. Der spannende und schön zu lesende Roman ist ein Blick durch ein Fenster, das im Alltag nicht mehr wahrgenommen werden kann.
Clara Arnaud: Im Tal der Bärin
Aus dem Französischen übersetzt von Sophie Beese
Kunstmann, Februar 2025
352 Seiten, Hardcover, 26,00 Euro
Diese Rezension wurde verfasst von Sabine Bovenkerk-Müller.