John Boynes Roman „Wasser“ ist der erste Band seines groß angelegten Elemente-Zyklus und erzählt kompromisslos wie einfühlsam von Schuld, Mitwissen und Selbstfindung. Im Mittelpunkt steht Vanessa Carvin, die nach den kriminellen Machenschaften ihres Mannes ihr Leben hinter sich lässt, sich die Haare abschneidet und auf eine abgelegene irische Insel flieht. Dort versucht sie, unter neuem Namen und fernab der Presse aufzutauchen, ihre eigene Rolle in den Geschehnissen zu hinterfragen und herauszufinden, wo die Grenze zwischen Nichtwissen und Mitschuld verläuft.
John Boyne gelingt es dabei, die tiefenpsychologischen Abgründe einer Frau auszuloten, die sich zwischen Flucht, Reue, Repressalien und der Suche nach Vergebung bewegt. Die Handlung entfaltet sich ruhig, fast kontemplativ, während Details aus Vanessas Vergangenheit und ihrem Familienleben langsam ans Licht treten: Der Vater ihrer beiden Töchter sitzt im Gefängnis, eine Tochter ist tot, zur anderen bricht der Kontakt ab, und Vanessa muss sich den düsteren Fragen nach ihrer eigenen Wahrnehmung und Verantwortung stellen. Besonders gelungen ist die leise, aber nachhaltige Spannung: Statt die Taten des Ehemanns auszubreiten, konzentriert sich Boyne ganz auf Vanessas Innenwelt und das Motiv der Blindheit – wusste sie wirklich nichts oder wollte sie es nicht wissen?
Die Symbolik des Wassers durchzieht den Roman auf mehreren Ebenen: Es steht für das Unterbewusste, für Reinigung, Verdrängung und Erkenntnis. Insel, Meer und Natur repräsentieren Isolation, aber auch die Chance auf Transformation. Boynes Sprache ist klar, atmosphärisch verdichtet und voller Empathie für seine Protagonistin, deren Beweggründe bis zuletzt ambivalent bleiben.
„Wasser“ ist eine konsequent erzählte, psychologisch glaubwürdige Novelle über Selbsttäuschung, familiäre Dynamik, gesellschaftlichen Druck und die komplexe Frage nach Schuld – subtil, intelligent und menschlich. Boyne zeigt große erzählerische Stärke im Umgang mit moralisch schwierigen Themen und legt einen stillen, nachdenklich stimmenden Roman vor, der lange nachhallt und zum Nachdenken über eigene blinde Flecken anregt. Sehr empfehlenswert für alle, die literarisch anspruchsvolle, psychologisch dichte Gegenwartsliteratur mögen.
John Boyne: Wasser Piper, Oktober 2025 144 Seiten, Gebundene Ausgabe, 18,00 EuroDiese Rezension wurde verfasst von Andreas Schröter.