Anne Holt: Zwölf ungezähmte Pferde

Wer Hanne Wilhelmsen nicht aus den früheren Bänden der Reihe kennt, dürfte versucht sein, sie als echt unsympathisch und schwierig abzustempeln. Kein Wunder, ist sie doch extrem sarkastisch, kompromisslos und unhöflich zu ihrer Frau und Tochter, zu den beiden gemeinsamen jungen Freunden, die zum Abendessen eingeladen sind. Noch bevor das Essen richtig begonnen hat, ist der Abend zu Ende. Eskaliert wegen Hannes mangelnden Einfühlungsvermögens, ihrer sehr speziellen eigenen Art, mit Leuten umzuspringen, in der Annahme, sich alles erlauben zu können. Diesmal nicht. Nefis, ihre Frau, verlässt gemeinsam mit Tochter Ida noch am selben Abend die gemeinsame Wohnung. Henrik, ein junger Hauptkommissar und Hannes einzig noch verbliebene Verbindung zur Polizei, wie auch Ebba, eine junge Lektorin, sind ebenfalls richtig sauer wegen Hannes Benehmen und gehen. Hanne findet sich alleine in der großen Wohnung wieder.

Hanne, ehemalige brillante Hauptkommissarin in Oslo, seit zwanzig Jahren nicht mehr im Dienst, nachdem sie bei einem Einsatz angeschossen worden war, ermittelt seitdem privat. Oft zum Nutzen der Polizei, aber eben nicht mehr mit den früheren Kollegen, die sie im Übrigen immer eher respektiert als gemocht haben. Ihre Art des Umgangs war eben schon immer speziell. Jetzt aber sieht sie sich komplett alleine. Allerdings hat sie im Moment auch keinen Fall, mit dem sie sich beschäftigen könnte, was unbedingt zu ihrer miesen Laune beiträgt. Das soll sich schnell ändern. Henrik, obwohl verärgert, sucht Hannes Unterstützung. Sie verweigert sie ihm, antwortet nur abweisend auf seine Nachrichten und lässt ihn sozusagen im Regen stehen. Kurz darauf ist Henrik tot. Seine nackte Leiche wird in einem Müllcontainer gefunden. Hanne ist völlig am Boden, verzweifelt, fühlt sich schuldig. Der Drang, den Mord an dem jungen Freund aufzuklären, ist übermächtig, auch wenn sie im Moment nicht wirklich weiß, wie sie das anstellen soll, wo doch ausgerechnet Henrik ihre letzte Verbindung zur Polizei gewesen ist, der ihr hätte helfen können. Alleine und im Rollstuhl kann sie wenig ausrichten. Also bleibt Ebba, die allerdings von Polizeiarbeit wenig Ahnung hat. Und vielleicht ein neuer junger Kollege bei der Polizei, der aber noch recht unerfahren ist – dennoch, es ist den Versuch wert, ihn ein bisschen „einzubeziehen“. Wie sich herausstellt, war Henrik mit einem Fall befasst, der eigentlich schon zu den Akten gelegt worden war. Der Selbstmord einer jungen, sehr religiösen Frau, die Henrik flüchtig gekannt hatte. Was genau ihn an dem Fall stutzig gemacht hat, wird erst im Lauf der Ermittlungen um seinen eigenen Tod klar, als nämlich Ebba, die sich Henrik als Freund anvertraut hat und ihm eine ungeheuerlich klingende Geschichte erzählt hat, sich jetzt auch – notgedrungen, sie kann den Druck der Verzweiflung nicht mehr aushalten – Hanne anvertraut. Damit bekommt alles eine völlig neue Bedeutung. Ein dritter ähnlicher Fall, von dem Marius, der junge Kommissar, berichtet, erhärtet den Verdacht, dass Henrik einer Organisation auf der Spur gewesen sein muss, die ihren Hass gegen Frauen gewalttätig auslebt. Hanne und Ebba geraten in ein Netz aus Frauenhass, Verachtung und Missbrauch, in dem es auch um Fälle von ungeklärten Schwangerschaften geht, als Teil eines größeren, grauenhaften Ganzen.

Misogynie und Incels, Männer, die unfreiwillig in einer Art Zölibat leben, sind Thema dieses Krimis um Hanne Wilhelmsen, die wieder einmal gegen ihre eigenen Dämonen kämpfen muss.

Wenn man die vielen Namen, mit denen man auf den ersten Seiten konfrontiert wird, einmal verarbeitet hat und den ein oder anderen zuordnen kann, wird’s richtig spannend. Anne Holt greift wieder einmal ein brisantes, aktuelles und entsetzendes Thema auf, das sie geschickt und fesselnd in einen Krimi packt, um eine sehr eigensinnige Ermittlerin mit mehr Ecken und Kanten, Macken und Eigenheiten als manchmal gut ist. Hanne Wilhelmsen ist, wie sie ist. Man muss sie nicht mögen, aber als Ermittlerin ist sie hervorragend. Es macht im Übrigen nichts, wenn man die ersten Bände nicht kennt, auch der zwölfte Fall für Hanne kann gut für sich alleine stehen. Man lernt sie und ihre Familie, ihre Kollegen und ihre Geschichte gut genug kennen, um zu wissen, worum es geht. Spannend wie immer, aktuell und realistisch.

Anne Holt: Zwölf ungezähmte Pferde
Aus dem Norwegischen übersetzt von Gabriele Haefs
Atrium, September 2025
512 Seiten, Hardcover, 24,00 Euro

Diese Rezension wurde verfasst von Sabine Ertz.

Teilen Sie den Beitrag mit Ihren Freunden und Kontakten:

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.