Birgit Birnbacher: Wovon wir leben

Der Krankenschwester Julia passiert ein unverzeihlicher Fehler. Sie verwechselt zwei Patientinnen und verabreicht einer ein Medikament, gegen das diese allergisch ist. Die Frau kann gerettet werden, dieser Vorfall nimmt Julia aber endgültig die Luft. Sie hat ohnehin schon Lungenprobleme und bekommt heftige Atemnot. Ihr Arbeitgeber teilt ihr mit, ab ihrer Gesundschreibung ist sie entlassen. Sie ist 38 Jahre alt, nicht verheiratet, kinderlos, die Geliebte eines gebundenen Arztes, der zum dritten Mal Vater wird. Um vielleicht etwas „aufatmen“ zu können, zum „Durchatmen“ sozusagen, beschließt sie, in ihr Heimatdorf in den Bergen zurückzukehren. Aber statt Unterschlupf und Zuwendung zu finden, trifft sie dort auf zerstörte Strukturen. Ihre Mutter hat ihren Vater verlassen und ist zu einem anderen Mann nach Sizilien gezogen. Der Vater, verbittert und ohne sinnvolle Beschäftigung, raucht zu viel und kommt mit dem Haushalt alleine nicht zurecht. Betriebe und Geschäfte haben geschlossen, alleingelassene Männer verbringen ihr Leben kartenspielend im Wirtshaus.

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Christoph Heubner: Als wir die Maikäfer waren

Und so bin ich müde geworden und mutlos: Was nützt es, immer wieder dasselbe anzuprangern und um die Aufmerksamkeit und die Solidarität der anderen zu bitten, wenn um die Ecke herum irgendwo auf der Welt schon der nächste Idiot wartet, seinen Hass gegen uns und andere Minderheiten auszuleben, ein Blutbad anzurichten und im Internet bejubelt zu werden.“ (S. 53.)

Solche Sätze sind es, die einen verstummen lassen während der Lektüre dieses dünnen, aber so ungemein wichtigen Buchs: Christoph Heubner: Als wir die Maikäfer waren. Dieses Buch, das in wenigen Erzählungen die Lebens- oder vielmehr die Leidensgeschichten von Überlebenden des Terrors in Auschwitz darstellt.

Christoph Heubner, Vizepräsident des Internationalen Auschwitz-Komitees, hat diesen Überlebenden hier eine Stimme gegeben, in diesem dritten und letzten Band einer Trilogie. Die ersten Bände erschienen 2019 „Ich sehe Hunde, die an der Leine reißen“ und  2021 „Durch die Knochen bis ins Herz“. In diesen Büchern fasst er die Erinnerungen der Überlebenden, die ihm zu Freunden wurden, zusammen.

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Kaelo Michael Janßen, Thomas Nicolai: Nackt auf Usedom

Dem Roman „Nackt auf Usedom“ des Dortmunders Kaelo Michael Janßen und des gebürtigen Leipzigers Thomas Nicolai liegt eine interessante Fragestellung zugrunde: Wie unterschiedlich war es eigentlich, in den 80er-Jahren in der Bundesrepublik beziehungsweise in der DDR aufzuwachsen?
Torsten aus dem Ruhrpott wird von seiner Lehrerin genötigt, eine Brieffreundschaft mit einem Jugendlichen aus der DDR aufzunehmen. Er soll aus erster Hand etwas aus dem anderen Deutschland erfahren.

Etwas widerwillig macht er sich ans Werk, schließlich hat er mit Bier trinken, den Mädchen nachsteigen und dem Versuch, eine Band zu gründen, genug zu tun. Andreas aus Leipzig trinkt zwar kein Bier, macht aber ebenfalls gerade die ersten Erfahrungen mit Mädchen und steigt auch in eine Band ein.

„Nackt auf Usedom“ spielt gekonnt mit den bekannten Ost-West-Klischees, um sie dann genauso geschickt wieder aufzulösen. Vor allem sprachlich ist der Roman ein humoristischer Hochgenuss, bei dem man aus dem Grinsen nicht mehr herauskommt. 

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Sarah Crossan: Toffee

Dieser Roman zieht einem den Boden unter den Füßen weg, nur um einem dann sofort eine Hand zu reichen. Er ist so intensiv und gleichzeitig schrecklich und so wunderschön, dass man lachen und weinen möchte, gleichzeitig und parallel. Er ist furchtbar traurig und gleichzeitig voller Hoffnung.

Wenn man dieses Buch aufschlägt, irritiert es, denn zuerst weckt es den Anschein, als handele es sich um einen Gedichtband. Die Zeilen sind kurz, brechen mitten im Satz um, manche Kapitel bestehen nur aus ein oder zwei Sätzen. Doch wenn man sich einliest, fallen lässt in diese Erzählung, dann packt sie, hält einen fest und lässt auch nicht los, wenn die letzte Seite umgeblättert ist.

Die junge Allison, 15 und mutterlos, läuft von zu Hause weg. Sie hält es nicht mehr aus, ihr Vater ist ein Schläger, der wenig braucht, um voller Wut über sie herzufallen. Nachdem die bisherige Freundin des Vaters, Kelly-Ann, mit der sich Allison ganz wunderbar verstand und die ihr Halt gab, sie und den Vater verlassen hat, hält es das Mädchen nicht mehr aus und geht. Auf der Suche nach Kelly-Ann landet sie im Haus von Marla, einer dementen alten Frau, die Allison für ihre lange verschwundene Freundin Toffee hält.

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Siri Hustvedt: Mütter, Väter und Täter

Zwanzig Essays, die Siri Hustvedt in den Jahren zwischen 2011 und 2020 verfasst hat, sind in diesem Buch versammelt.

Einerseits sind diese Essays stark von ihren persönlichen Erinnerungen an ihre Familie und deren Herkunft geprägt, andererseits greift Hustvedt Themen auf, mit denen sie sich auch bereits in ihren Romanen auseinandergesetzt hat, so unter anderem mit den Neurowissenschaften, der Psychoanalyse, Kunst, Schreiben, natürlich dem Feminismus und – weil es ins Zeitraster fällt – der Pandemie. 

Gleich zu Anfang gewährt sie uns sehr private Eindrücke aus ihrer Kinderperspektive auf ihre ländlich geprägte Großmutter Tillie, der Mutter ihres Vaters, die keinen feinen Sprachgebrauch pflegte. Ihrem Vater, einem Literaturprofessor, kreidet sie indirekt an, dass er so gut wie nie über Frauen, sondern immer nur über Männer schrieb und auch die Frauen aus der eigenen Familie in seinen hinterlassenen Briefen und Dokumenten wenig bedachte. Dennoch behauptete sich ihre Mutter als starke und autarke Frau neben dem Vater.

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Judith Hermann: Wir hätten uns alles gesagt

Von Judith Hermann wurden in unserem Leselust-Portal bereits zwei ihrer zuvor veröffentlichten Bücher vorgestellt: Lettipark, das 2016 erschienen, und Daheim, das 2021 erschienen ist.

Alle ihre Romane erfuhren große Beachtung. Die Autorin wurde mit zahlreichen Nominierungen und Preisen, unter anderem dem Blixen-Preis für Kurzgeschichten, dem  Kleist-Preis, dem Friedrich-Hölderlin-Preis oder dem Bremer Literaturpreis für verschiedene Werke geehrt. 

Ihr neues Buch nun, „Wir hätten uns alles gesagt, ist an die Frankfurter Poetikvorlesungen angelehnt, wo Hermann über das Schweigen und Verschweigen im Schreiben doziert hat. Dabei hat die Dozentin Judith Hermann viel Privates, was ihr Schreiben beeinflusst hat, thematisiert. In den großen und kleine Problemen von denen wir lesen, geht es unter anderem um die familiären Verhältnisse der Autorin oder sie gewährt Einblicke in bestehende und vergängliche Freundschaften. Ihre Texte sind an das eigene Leben angelehnt, an dem sie entlangschreibt. Es geht dabei um Lebensgefühle, Lebensstationen, Wahrnehmungen, Veränderungen oder gleich zu Anfang des Romans um eine Psychoanalyse, die einen besonderen Stellenwert einnimmt.

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Juli Zeh, Simon Urban: Zwischen Welten

Liebe Theresa, lieber Stefan,

schon bald, nachdem ich mit dem Lesen eurer Korrespondenz begonnen hatte, regte sich in mir das Bedürfnis, mich in euren Austausch einzumischen. Ich meinte vermitteln zu können bzw. zu müssen. Ich sah die Barrikaden auf beiden Seiten und das Ringen darum, sich dem anderen verständlich zu machen. Wahrscheinlich wäre ich genauso gescheitert wir ihr.

Stefan ist Journalist und leitet das Kulturressort einer großen deutschen Wochenzeitschrift mit Sitz in Hamburg. Theresa hat den Hof ihres Vaters übernommen, auf biologische Landwirtschaft umgestellt und kämpft seither zwischen Melkstand, Traktor und Bürokratieumdas wirtschaftliche Überleben. Die beiden kennen sich vom Studium, hatten sich lange aus den Augen verloren und zufällig in Hamburg wieder getroffen.Sie vereinbaren einen Neuanfang.

Der daraus entstehende Austausch per WhatsApp und Mail wird schnell zu einem Streitgespräch über unterschiedliche Vorstellungen und Positionen. Theresa fühlt sich von den Gendersternchen in Stefans Texten provoziert, für ihn hingegen sind Theresas Kühe vor allem Klimakiller. Beide agieren authentisch und ihre Beweggründe sind nachvollziehbar.Im Prinzip wollen sie das Gleiche: Eine gerechte Gesellschaft in einer funktionierenden Demokratie und eine intakte Umwelt.Doch mangelnde Breitschaft, die Welt mit den Augen des anderen zu sehen, führt schnell zu Unterstellungen und Vorwürfen. Ich habe immer den Eindruck, dass sie einander nicht zuhören und aneinander vorbeischreiben.Sie präsentieren Fakten, aber eigentlich geht es um Befindlichkeiten.Ich fand es ermutigend, dass sie trotzdem nicht hingeworfen und nach gemeinsamen Schnittmengen gesucht haben.

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Lana Bastašić: Mann im Mond

Ich brauchte ganz schön lange, um Papa zu erwürgen.“ (S. 9).

Es sind verstörende Texte, die die kroatische Autorin in diesem Band mit Erzählungen versammelt. Es sind Geschichten um und über Kinder, Kinder, die unter ihren Eltern leiden, die an ihren Eltern leiden. Kinder, die sich gegen dieses Leiden wehren, mit teils erschreckenden, teils folgerichtigen Methoden.

In zwölf Geschichten erzählt Lana Bastašić von solchen Kindern. So in der ersten mit dem Titel „Wald“, in der, wie der oben zitierte erste Satz bereits verrät, das Kind den eigenen Vater erwürgt. Den Vater, über den sich der ganze Ort den Mund zerreißt, den Vater, der immer in den Wald geht, um, wie er sagt, „den Kopf frei zu kriegen“. Wo das Kind aber ganz andere Dinge beobachtet, die der Vater, mit der Hand in seiner Hose, tut.

Da ist der Junge, der so gerne die Berichte über die erste Mondlandung im Fernsehen sehen würde, dem dies aber nicht gelingt wegen der vielen Menschen im Raum. Der Junge, der gerne selbst Astronaut wäre, der nach dem Mann im Mond Ausschau hält. Der Junge, dessen Vater ihn immer wieder verprügelt. Der Junge, der diese Prügel hinnimmt, damit seine jüngeren Brüder verschont werden. Der Junge, dessen Vater plötzlich verschwindet…

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Karin Smirnoff: Wunderkind 

„Wunderkind“ von Karin Smirnoff ist ein Roman, der wehtut, der anstrengt. Ein Roman, den man liest, obwohl man ihn nicht lesen will, den man abbricht, obwohl man weiterlesen möchte.

In Ich-Form erzählt Agnes ihre Geschichte. Ihre Geschichte als Tochter von Anitamama. Anita, die alles ist, nur ganz sicher nicht das, was das Wort „Mama“ bedeutet. Von Geburt an hasst, ja verabscheut Anita ihre Tochter, gibt ihr die Schuld an ihrem eigenen Versagen, dem Ende ihrer vermeintlichen Karriere, dem Verlust ihrer Schönheit, dem Verlassensein.

Sie vernachlässigt das Kind, das erst in die Obhut der Großmutter kommt, dann aber doch zu Anita muss. Sie lässt Agnes hungern, versorgt sie nicht mit ausreichend Kleidung. Sie erzählt Lügen über ihr eigenes Kind. Und sie verbietet ihr das Einzige, was Agnes wirklich etwas bedeutet. Das Klavierspielen.

Denn Agnes ist ein Wunderkind. Schon als sie noch ganz klein ist, kann sie nach dem Gehör und nach eigenem Gespür ganz wunderbar Klavier spielen. Doch die Mutter neidet ihr dieses Talent, übertrifft das Kind doch ihre eigenen, längst nicht in solchem Maße vorhandenen Fähigkeiten, wie Anita von sich selbst glaubt.

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Julia Schoch: Das Liebespaar des Jahrhunderts

Die deutsche Schriftstellerin und Übersetzerin Julia Schoch (Jahrgang 1974) erhielt kürzlich den Schubart-Preis 2023 für ihr Buch „Das Vorkommnis“ aus dem Jahre 2022. Es ist das erste Buch einer Trilogie, die den Untertitel „Biographie einer Frau“ trägt. Am 16. Februar 2023 ist der zweite Teil „Das Liebespaar des Jahrhunderts“ bei dtv erschienen.

Darin beschließt die Ich-Erzählerin nach dreißig Jahren Beziehung: „Ich verlasse dich.“

Sie denkt diesen Satz mit den drei Worten, spricht ihn jedoch nicht aus. Vielmehr gerät sie ins Erinnern: was ist aus dem „Ich liebe dich“ des Anfangs geworden?

Dabei wandelt sie auf den Spuren der Vergangenheit. Geht zurück zum ersten Kennenlernen, zum ersten Vanilletee. Schoch beschreibt die große, aufregende Liebe zwischen ihren Figuren während des Studiums, während der Auslandsaufenthalte in Paris und Bukarest und die langsame, aber stetige Ernüchterung im schnöden Alltagsleben zwischen Geld verdienen, Kinder kriegen und Verantwortung tragen:

„Ich habe einen Wimpernschlag gebraucht, mich in dich zu verlieben, und dreißig Jahre, um Gründe dagegen zu sammeln.“ (S. 65)

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