Anna Bailey: Unsere letzten wilden Tage

Devall und seine jüngeren Geschwister Cutter und Beau leben dort, wo die Alligatoren zu Hause sind. Es ist ein einsames Hinterland von Louisiana, geprägt von Sumpfgras und Tümpeln sowie Wäldern und Wasserausläufern. Im Sommer wird diese wilde Landschaft so heiß, dass Kadaver auf dem Asphalt gebraten werden. Seit Devall und seine Geschwister viel zu früh Vollwaisen geworden sind, versucht er für den Rest der Familie ihre Lebensgrundlage zu erhalten, in dem er seine ganze Kraft in die Alligatorenfarm der Eltern steckt. Er führt ein extrem hartes und gefährliches Leben, das von vielen Seiten bedroht wird. Aus diesem Grund ist er ebenfalls hart und gefährlich geworden. Für ihn enden die letzten wilden Tage, nachdem er nicht mehr mit seiner Schwester Alligatoren jagen kann.

Die englische Autorin und Journalistin Anna Bailey zeigt in ihrem zweiten Buch ein Amerika der unbegrenzten Möglichkeiten und des unbegrenzten Leidens. Im Zentrum dieser Geschichte steht die Journalistin Loyal, die sich beruflich und privat mit Cutter, ihrer besten Freundin aus Kindertagen, auseinandersetzen muss und damit auch Devall im Fokus hat.

Er sei der Teufel, sagte Cutter häufig über ihren großen, auffällig tätowierten Bruder. Genaugenommen steht Devall im Zentrum mehrerer Ereignisse, die er direkt oder indirekt verursacht hat. Würde Loyal ihn zu diesen Ereignissen befragen, müsste sie zunächst ihre Angst vor ihm überwinden. Sie müsste darüber hinaus mit explosiven Gewaltausbrüchen oder hartnäckigem Schweigen rechnen.

Um die Geschichte von Cutters Familie greifbar zu gestalten, braucht Anna Bailey eine treibende Kraft in Gestalt der Journalistin Loyal, die während ihrer schwierigen Schulzeit mit Cutter eng befreundet war. Ihre Erinnerungen aus dieser Zeit beschreiben die Hintergründe einer Eskalation. Loyal findet Worte für das Leben von Cutter und ihren Brüdern, die die Betroffenen selbst nicht mehr haben können.

So nach und nach erarbeitet sich Loyal eine differenzierte Perspektive, indem sie Erinnerungen und neue Erkenntnisse im Kontext sieht. Dabei sind einige Hindernisse zu überwinden, wie zum Beispiel diese alten Schuldgefühle und ihre tiefgehende Betroffenheit zu aktuellen Ereignissen. Wie kann sie Cutter und insbesondere Devall gerecht werden, wenn sie früher ungerecht war? Soll alles beim Alten bleiben? Wie früher reden einige Bewohner von Jacknife schlecht über Cutter und ihre Familie, die noch immer arm sind. Und wie früher erlebt Loyal persönliche Angriffe, weil sie nicht dem Klischee einer zierlichen, hübschen, jungen Frau entspricht. Ihre Suche nach der Wahrheit scheucht Menschen auf, die man besser in Ruhe lassen sollte.

Anna Bailey gelingt eine berührende und spannende Geschichte einer Freundschaft, in der nichts einfach war. Sie beschreibt anschaulich eine wilde Landschaft, Menschen, die hart im Nehmen sind und großzügig auszuteilen wissen. Und wenn man zusammen mit der Journalistin Loyal einem Verbrechen auf den Grund gegangen ist, sieht auf einmal alles ganz anders aus. Man bleibt mit einem Gefühl von Hilflosigkeit und Empathie bei einigen Charakteren hängen, deren Geschichten zwangsläufig weiter gehen. Nur dieses Mal im Verborgenen, sodass auch am Ende der Lektüre ein Bedauern bleibt.

Anna Bailey: Unsere letzten wilden Tage
Aus dem Englischen übersetzt von Julien Haefs
Rütten & Loening, August 2025
382 Seiten, Hardcover mit Schutzumschlag, 22,00 Euro

Diese Rezension wurde verfasst von Sabine Bovenkerk-Müller.

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