Nina George: Die geheime Sehnsucht der Bücher

„Im Prinzip, dachte Francoise, im Prinzip sind Menschen ein Hochhaus mit ganz vielen Klingelschildern. Und dann kommt ein Buch und drückt vielleicht drei oder vier von hundert möglichen Klingeln. Beim mir bimmelt’s im Oberstübchen und bei anderen im siebten, also gehen Bücher durch ganz andere Türen bei Leuten rein und raus, wieso soll ich denen was vom 24. Stock erzählen, wenn die gar nicht wissen, was da los ist?“ Ich finde, Francoise hat recht. Unbedingt.

Nicht jedes Buch kommt bei jedem gleich gut an, löst die gleichen Gefühle aus, lässt die gleichen Bilder im Kopf entstehen. Sie kennen das sicher auch, dass Sie einfach im Moment nicht in Stimmung sind für ein bestimmtes Buch, in ein paar Tagen oder Wochen kann das ganz anders sein. Und eben das ist die Idee hinter der „Pharmacie Littéraire“, die der Buchhändler Jean Perdu auf einer einfachen „péniche“ eingerichtet hat. Eine Apotheke „für alle Gefühle, für die es sonst keine Arzneien gibt. Heimweh zum Beispiel. Er meint, es gäbe da unterschiedliche Arten. Geborgenheitsverlangen, Familiennostalgie, Abschiedsangst oder Liebessehnsucht“. Und das ist nur eins von x-tausend verschiedenen. Die Bücher in der Pharmacie Littéraire sind denn auch nicht nach Titeln, Genres, Autoren oder vielleicht Farben oder Größe einsortiert, nein, hier findet man in den Regalen die Bücher, die jeweils zu einer bestimmten „maladie“ passen, bzw. helfen können, sie zu heilen. Perdu bietet sogar Sprechstunden an. Und damit das alles auch bekannt wird, kümmert sich seine Assistentin Pauline, die grade eine Ausbildung zur Buchhändlerin macht, um die Vermarktung im Internet. Und dann gibt es noch Marie, eine elfjährige Waise, um die Perdu sich kümmert, seit ihre Mutter ihn vor ihrem Tod darum gebeten hat.

Marie hat ist ein Bücherwurm, unglaublich belesen und intelligent. Sie liest nicht nur, sie hinterfragt und lässt sich nicht einlullen von schönen Worten. Damit kommt sie nicht überall gut an, vor allem nicht bei den Eltern der Kinder, denen sie unter anderem aus „Oliver Twist“ oder Roald Dahls „Matilda“ vorliest. Genau so ist auch Francoise, die eines Tages in diese besondere Buchhandlung stolpert, weil sie sich Hilfe für ihre Mutter erhofft, die irgendwie ganz aus der Welt gefallen zu sein scheint. Ohne die zwölfjährige Francoise völlig lebensuntauglich, nicht in der Lage für sich selbst zu sorgen, lebt sie zurückgezogen und abgeschottet in ihrer riesengroßen Wohnung, an Geld mangelt es nicht, sie hat keine Freunde, keine Aufgabe, nur ihre wunderbare Tochter, die alles managt. Und die sich Sorgen um die Mutter macht, von der sie eigentlich kaum etwas weiß.

Nicht wer ihre Familie ist, nicht wie sie groß geworden ist oder an diese Wohnung gekommen. Die erste Begegnung auf dem Boot verläuft nicht so erfolgreich wie Francoise es sich erhofft hatte, sie zieht wütend wieder ab. Doch Pauline, die, genau wie Perdu, ein feines Gespür für Menschen hat, setzt alles daran, Francoise wiederzufinden und sie wieder in die Buchhandlung zu bekommen. Das bekommt sie wunderbar hin. Marie und Francoise, jede für sich einsam, freunden sich an und machen sich bald einen Namen in der Bücherwelt – mit ihren Lesungen für Kinder, die Eltern „Angst machen“, die Kinder aber begeistern. Gemeinsam mit Pauline, Perdu und seinen Freunden erleben sie einen wunderbaren Sommer, in dem viel mehr passiert, als dass sie zusammen lesen und über Bücher diskutieren.

Ihre Welt verändert sich, Francoises Leben wird ein ganz anderes, nachdem es gelungen ist, ihre Mutter aufzurütteln und sich dem Leben zu stellen. Auch für Pauline bringt dieser Sommer völlig neue Erfahrungen und Erkenntnisse. Ein Buch, das einen fesselt, wenn man bereit ist, sich darauf einzulassen, das einen entführt in eine andere Welt und einen nicht mehr loslässt. Emotional, humorvoll, traurig, wunderbar und irgendwie auch tröstlich. Irgendwie zauberhaft und wie ein Märchen für Erwachsene. Dass ich die beiden ersten Bände über Monsieur Perdu und seine wunderbare Buchhandlung nicht kannte, ist zwar schade, hat dem Leseerlebnis jetzt überhaupt nicht geschadet.

Nina George: Die geheime Sehnsucht der Bücher

Knaur, Mai 2025

400 Seiten, gebundene Ausgabe, 23,00 Euro

Diese Rezension wurde verfasst von Sabine Ertz.

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