Mit Königin Esther legt der amerikanische Bestsellerautor John Irving im Alter von über 80 Jahren ein Werk vor, das alle vertrauten Zutaten seines Schreibens enthält – und doch erstaunlich leblos bleibt. Zwar blitzt hier und da jener eigentümliche Humor auf, der seine Romane seit Garp und wie er die Welt sah oder Owen Meany auszeichnet, doch insgesamt wirkt dieser späte Roman eher wie ein intellektuelles Experiment.
Irving verwebt verschiedene Schauplätze und Zeiten – Wien, Neuengland, Palästina und Jerusalem –, doch die ständigen Orts- und Perspektivwechsel zerren am erzählerischen Zusammenhalt. Das Ergebnis ist ein sprunghaft aufgebauter Text, dessen mittlere Kapitel verwirrend wirken. Die Handlung verliert sich in Nebengleisen, und die Titelfigur, Esther Nacht, bleibt erstaunlich blass. Ihr Innenleben, ihre seelische Entwicklung – all das bleibt schemenhaft, der Leser erfährt so gut wie nichts darüber.
Stattdessen setzt Irving auf ausgedehnte Diskurse. Seitenlange Passagen über jüdische Identität, Antisemitismus, Abtreibung und die Konflikte im Nahen Osten wirken weniger wie Teil einer Erzählung als wie ambitionierte Essays. Wer sich weniger für diese Themen interessiert, wird sich dabei ertappen, ganze Absätze zu überfliegen. Der Roman verliert an emotionaler Spannung und menschlicher Wärme – aus Leidenschaft wird Lehrstück.
Dabei sind die vertrauten Irving-Motive durchaus vorhanden: die Suche nach Zugehörigkeit, das Ringen mit Schuld und Glauben, die Abgründe familiärer Beziehungen. Doch gerade weil man sie kennt, wiegen sie diesmal schwerer – sie wirken wie Wiederholungen früherer Einfälle, ohne jene erzählerische Frische, die Irvings frühe Bücher unvergesslich machte.
Königin Esther ist kein schlechtes Buch, aber ein zu verkopftes. Es zeigt einen großen Erzähler, der mehr reflektiert als erzählt, mehr erklärt als fühlt. Was bleibt, ist Bewunderung für Irvings moralischen Ernst – und die leise Trauer darüber, dass sein erzählerischer Zauber in diesem Alterswerk verblasst ist.
John Irving: Königin Esther
Übersetzt aus dem amerikanischen Englisch von Peter Torberg und Eva Regul
Diogenes, November 2025
560 Seiten, gebundene Ausgabe, 32 Euro
Diese Rezension wurde verfasst von Andreas Schröter.
