Carsten Henn: Sonnenaufgang Nr. 5

Ein Leben in Erinnerungen. Aber möglichst nur solchen, die einem angenehm sind – keine schlechten! Das möchte die alternde, exzentrische Filmdiva Stella Dor in ihrer Autobiografie wiederfinden. Sie lebt recht einsam in einem kleinen, ziemlich verlassenen Ort an der Küste, in einem ehemaligen Pavillon, den sie der Gemeinde, die ihn eigentlich aufgeben wollte, für einen symbolischen Euro abgekauft hat.

Der Bürgermeister hat sich von diesem Verkauf ein bisschen Glamour für seinen Ort erhofft, vielleicht Künstler, die den Ort beleben würden oder die ein oder andere Ausstellung oder Veranstaltung, aber Stella lebt dort eher zurückgezogen und allein – mit ihren Notizzetteln überall, auf denen sie ihr Leben erinnert. Um all das in Buchform zu bringen, braucht sie Unterstützung. Die findet sie in Jonas, einem 19-jährigen, der grade sein zu trockenes, zu langweiliges Germanistikstudium geschmissen hat, um sich als Ghostwriter seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Sollte das nicht gelingen, so hat er versprochen, wird er in einem Jahr seinem Vater im Restaurant helfen. Vorerst ist er froh, diesen ersten Auftrag bekommen zu haben und von zuhause wegzukommen. Auch dort muss er sich nämlich nicht nur dem Leben stellen, sondern auch Erinnerungen, die er lieber verdrängt.

Die Begegnung mit Stella, dieser bemerkenswerten, ein bisschen sonderbaren ehemaligen Filmdiva verläuft denn auch insgesamt so sonderbar wie Stella lebt. Jonas wird von ihrer Art und Persönlichkeit quasi überrumpelt, mit ihren Erinnerungen an glamouröse Zeiten überfrachtet, die er in Buchform bringen soll. Keine leichte Aufgabe, zumal Stella sehr sprunghaft ist in ihren Erzählungen und ihrem Handeln. Nessa, eine junge Frau, die Jonas kennenlernt, als er sich ein Fahrrad ausleiht, um einfacher von der Pension, in der er untergekommen ist, zu Stellas Pavillon am Meer zu kommen, interessiert sich sehr für seine Arbeit und die Frau, über die er da schreiben soll. Sie ist es auch, die ihn drängt, auch mit anderen Menschen aus Stellas Leben zu sprechen, um auch andere Perspektiven in die Biografie einfließen lassen zu können und das ein oder andere Ereignis vielleicht auch aus einem anderen Blickwinkel zu sehen.

So lernt Jonas Stellas Ex-Mann und ihre Tochter kennen, die schon lange weggezogen sind und die ihm vieles, vor allem den Grund ihrer Trennung doch ganz anders schildern als Stella das erzählt hat. Stella ist nicht glücklich mit Jonas‘ Alleingang! Aber auch sie erkennt, dass sie manches verklärt. Die Konfrontation mit der Sichtweise anderer fällt ihr nicht leicht. Und so wird das Buch dann doch ein bisschen anders als Stella es sich vorgestellt hatte. Auch ihr Leben ändert sich noch einmal, nachdem sie ihre Erinnerungen zu Papier gebracht hat. Und auch Jonas, genau wie Nessa oder auch Bentje, die ebenfalls in der Erinnerung lebt, lernt, mit den Erinnerungen, so schmerzlich sie auch sein mögen, selbst in seinem jungen Leben schon, zu leben und sie zu akzeptieren.

Ein sehr anrührender, einfühlsamer Roman um dieses sehr ungleiche Paar, das doch voneinander profitiert und gemeinsam neue Erfahrungen macht. Voller witziger und kluger Dialoge, flüssig geschrieben, unterhaltsam und stellenweise auch gleichermaßen traurig.

Carsten Henn: Sonnenaufgang Nr.5
Piper, Oktober 2025
288 Seiten, Hardcover, 18,00 Euro

Diese Rezension wurde verfasst von Sabine Ertz.

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