Liz Nugent: Seltsame Sally Diamond

Roman einer ganz besonderen Frauenfigur – ein neues Juwel aus der Feder einer genialen Autorin

Sally Diamond wächst bei Adoptiveltern auf. Die Mutter ist bereits verstorben, nun erliegt auch der Adoptivvater seiner Krankheit. So wie er es gewünscht hat, verfrachtet sie seine Leiche in die Mülltonne und verbrennt ihn.

So beginnt dieser Roman, der einen dermaßen in seinen Bann zieht, dass man ihn geradezu verschlingt und vor allem diese beeindruckende Figur der Sally, die sich selbst als „sozial defizitär“ bezeichnet, so schnell nicht wieder vergessen wird.

Natürlich sorgt dieses Vorgehen der ohnehin im Ort bereits als extrem verschroben geltenden Frau für ziemliches Aufsehen, die Polizei ermittelt und Sallys Leben wird nicht einfacher. Sie ist Anfang vierzig, wurde zu Hause von den Eltern beschult und hat noch nie gearbeitet. Im Ort galt sie als taub, das half ihr, so zu tun, als höre sie nicht, was die Menschen über sie sagten.

Doch nun ändert sich alles. Denn nicht nur muss sie nach und nach die Briefe lesen, die der Adoptivvater ihr hinterließ, sie muss sich plötzlich allein im Leben zurechtfinden. Dabei stehen ihr die Ärztin Angela, eine frühere Freundin und Kollegin von Sallys Mutter, und deren Frau Nadine bei, sowie ihre Tante, die allerdings in Dublin wohnt.

Sally lernt neue Menschen kennen, schließt Freundschaften, manchmal erlebt sie auch Enttäuschungen, Ablehnung oder wird gar mit Vorurteilen und Rassismus konfrontiert, als sie sich mit zwei farbigen Kindern und deren Eltern anfreundet.

Nach und nach, in kleinen Schritten, klärt sich auf, was mit ihr geschah, als sie ein Kind war, wer ihre Mutter, wer ihr Vater war. Dieser Teil der Geschichte ist unglaublich erschütternd, an mancher Stelle möchte man nicht weiterlesen, möchte rufen, einschreiten. Was geschehen ist und welche Folgen das hatte, kann man in einer Rezension nicht erwähnen, ohne zu spoilern. Aber es erinnert an authentische Fälle, von denen man gelesen hat.

Erzählt wird der Roman vorrangig aus Sallys Perspektive in Ich-Form, doch im zweiten Teil tritt ein zweiter Protagonist auf, der ebenfalls in Ich-Form seine Geschichte erzählt. Auch dieser Part, dieser Anteil am Roman ist nicht minder erschütternd, nicht minder fesselnd, nicht minder interessant. Mehr möchte ich darüber hier nicht verraten.

Dabei biegt die Handlung um so viele Ecken, schlägt unendlich viele Haken, nimmt immer neue Wendungen, bleibt dabei auf höchstem Niveau hochspannend.

Der neue Roman von Liz Nugent, von deren vorigen Büchern ich bereits absolut begeistert war, ist ein Meisterwerk der Darstellung einer gequälten, geschundenen Seele, eines abscheulichen Verbrechens. Er schildert die Folgen anschaulich, nachvollziehbar, empathisch, voller Emotion, ohne jemals auf die Tränendrüse zu drücken. Der Schreibstil dieser irischen Autorin ist unübertrefflich, man dringt tief ein in ihre Figuren, fühlt, leidet mit ihnen, spürt ihre Zerrissenheit, ihre Verzweiflung bis unter die eigene Haut.

Ein Roman, den man nur empfehlen kann, wenngleich man gute Nerven benötigt bei der Lektüre. Ein absolutes Highlight auf dem Büchermarkt.

Liz Nugent – Seltsame Sally Diamond
aus dem Englischen von Kathrin Razum
Steidl Verlag, Mai 2024
Gebundene Ausgabe, 391 Seiten, 26,00 €

Diese Rezension wurde verfasst von Rena Müller.

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