Lionel Shriver: Lass uns doch noch etwas bleiben

Dieses überaus intelligente und gleichzeitig urkomische Buch  handelt vom Altern und den damit verbundenen Ausgestaltungen und Möglichkeiten, die das Leben dafür bereithält.

Die Ausgangsbasis dieses Romans liest sich wie aus dem Alltag gegriffen. Jeder kennt mehr oder weniger Lebensverhältnisse alter, dementer Menschen, die man sich für das eigene Altern nicht vorstellen mag. Lionel Shriver durchdenkt diese hochbrisante Thematik scharfsinnig und dabei federleicht in immer wieder neuen Varianten.

Die beiden Figuren, um die sich alles dreht, sind das Londoner Ehepaar Wilkinson. Kay und ihr Mann Cyril sind beide Anfang Fünfzig und gut situiert. Während Cyril sich in der Vergangenheit fast ausschließlich seinem Arztberuf widmen konnte, hat die Innenarchitektin Kay ihre Mutter bei der Pflege des dementen Vaters unterstützt. An Kays fünfzigsten Geburtstag stirbt der Vater, was bei allen Familienmitgliedern Befreiung und Erleichterung auslöst. Gleichzeitig ist dies ein guter Anlass für die Wilkinsons, sich über das eigene nahende Altern Gedanken zu machen.

Cyril hat die Lösung in Form von Chinalbarbiton in einer kleinen schwarzen Schachtel, die er in der hinteren Ecke des Kühlschranks deponiert, parat. Achtzig ist ein gutes Alter, um noch selbstbestimmt aus dem Leben gehen zu können, ohne dahinzusiechen, ist Cyrils pragmatische Devise. Das Alter soll keine Verlängerung des Sterbens mit Erniedrigungen und Demütigungen werden, die dazuhin den Staat und die Familie jede Menge Geld kosten würde. Kay, der die Schreckensszenarien vom Verfall ihres jahrelang umnachteten Vaters noch in den Knochen stecken, ist unumwunden einverstanden. Immerhin bleiben dem Ehepaar noch gute dreißig Jahre bis zum selbstgewählten Lebensende, wenn alles gut läuft. Dreißig Jahre, in denen sie mit dem Coronavirus, dem Brexit, Donald Trump, der Migrationskrise oder der Sorge um das marode Gesundheitssystem in Großbritannien konfrontiert sein werden.

Aber wie so häufig, wenn auf lange Sicht etwas geplant ist, kommt am Tag X alles ganz anders. Indes ist das Ende noch lange nicht das wirkliche Romanende. Lionel Shriver erfindet mit bewundernswertem und gleichzeitig inspirierendem Ideenreichtum das Leben und Altern des Ehepaars Wilkinson in allen Facetten wie in einer Zeitschleife immer wieder aufs Neue weiter.

Was für ein bereicherndes Buch! Lionel Shriver ist es gelungen, in diesem Roman eine ernste, aktuelle Thematik feinsinnig, befreiend skurril und geistreich zu verarbeiten.

Das hohe schriftstellerische Niveau der deutschen Ausgabe ist natürlich auch ein Verdienst der ausgefeilten stilistischen und emotionalen Treffsicherheit der beiden Übersetzer!

Absoluter Lesegenuss, der zum Nach- und Weiterdenken anregt.

Lionel Shriver: Lass uns doch noch etwas bleiben.
Übersetzung aus dem amerikanischen Englisch: Bettina Ababarnell und Nikolaus Hansen.
Piper Verlag, Juni 2024.
Hardcover, 352 Seiten, 24,00 Euro.

Diese Rezension wurde verfasst von Annegret Glock.

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