1918, während des Ersten Weltkriegs, wird London von den Deutschen bombardiert. Die Menschen (Lebende und Verstorbene) suchen Schutz, unter anderem in unterirdischen Bunkern. In diesem Klima der Angst und Unsicherheit soll jeder in der Bevölkerung seinen Beitrag leisten. Die Hexe Angela gibt ihr gesamtes Geld für Kriegsanleihen her. Als sie später hungert, sieht sie sich gezwungen, ein Brötchen zu stehlen. Auf ihre ganz persönliche Weise kämpft sie auch über den Wolken mit einer gegnerischen Hexe, während unter ihr die Kampfflieger über London kreisen.
Auch Sarah Brown leistet ihren Beitrag, in dem sie für eine Wohltätigkeitsorganisation arbeitet. Die unerwartete Begegnung mit der Hexe verzaubert nicht nur sie, sondern verändert auch das Leben der anderen Damen und des Vorsitzenden im Wohltätigkeitskomitee. Und damit sind die „zauberhaften“ Aussichten noch lange nicht vorbei.
Die Engländerin Stella Benson (1892-1933) war eine eigenständige Schriftstellerin, Feministin und trotz ihres kranken Körpers vielfach engagiert und reiselustig. Ihr dritter Roman Zauberhafte Aussichten entstand während des Ersten Weltkriegs und erschien 1919. „… Anders als die meisten bekannten Weltkriegsromane, die erst mehrere Jahre bis Jahrzehnte nach Kriegsende verfasst und veröffentlicht wurden …, zeichnet sich Bensons Roman … durch die nahezu ungefilterte Unmittelbarkeit der darin geschilderten Eindrücke von der kriegsgebeutelten Londoner Gesellschaft aus.“ (S. 211, Auszug aus dem Nachwort von Magda Birkmann)
Stella Benson soll zu ihrem dritten Ehemann gesagt haben: „Ich wurde nicht geboren, irgendjemandes Ehefrau zu werden, sondern dazu, Schriftstellerin zu sein.“ Ihr Leben lang schrieb sie Tagebücher. Sie schrieb sieben Romane, Kurzgeschichten, Gedichte, Essays, Reiseberichte und war Journalistin. Ruhm oder einen Platz in der Literaturgeschichte erhielt sie nicht. Möglicherweise liegt es an ihrem ungewöhnlich prallen und variantenreichen Schreibstil. In ihren Romanen findet man quasi alles, was an Techniken möglich ist: der Wechsel zwischen den Genres, der Erzählerinnen, eine kommentierende, auktoriale Erzählerin, Untertreibung, Übertreibung, feinsinniger Humor, gesellschaftliche und politische Kritik mit Hilfe von beißender Ironie und letztendlich ein zeitnaher Bezug zum persönlichen Erleben der Autorin.
Sarah und die Hexe meistern diverse Herausforderungen, auch wenn manche so unsinnig erscheinen wie die in Gestalt eines Polizisten. Dieser soll die Hexe verhaften. Sie „… wird eines Vergehens gegen das Gesetz zur Verteidschung des Reisches beschuldscht … und zwar eine Flugmaschine zu besitzen – obschon sie Zivilistin is – und … äh … die Feinde Seiner Majestät an der Ausführung ihrer Pflischt zu hindern.“ (S. 177)
Die Dialektik der mündlichen Sprache hat die Übersetzerin Marie Isabel Matthews-Schlinzig in eine Kunstsprache übertragen, um die Besonderheiten des Urtextes zu erhalten.
Stella Benson zaubert mit Künsten, die bei der Lektüre herausfordern und amüsieren. Zwischendurch äußerst sie sich so aktuell, als hätte sie die Zeilen gerade eben erst geschrieben …
In einer kleinen Szene erzählt sie, dass ein amerikanisches Eichhörnchen mit sozialistischer Prägung nach England ausgewandert und bei der Hexe auf der Fäustlinginsel gelandet ist. Dort hat es den Maibaum der Hexe gemietet. Grundsätzlich könne es nicht mehr in Amerika leben, erklärt das Eichhörnchen, weil man dort seine Meinung nicht sagen dürfe. Das Land würde von zwei Parteien beherrscht, den Republikanern und den Sündern.
Stella Benson: Zauberhafte Aussichten
rororo Entdeckungen, Band 6
Aus dem Englischen übersetzt von Marie Isabel Matthews-Schlinzig
Herausgegeben von: Magda Birkmann, Nicole Seifert
Nachwort von Magda Birkmann
Rowohlt Taschenbuch, Mai 2024
224 Seiten, Taschenbuch, 15,00 Euro
Diese Rezension wurde verfasst von Sabine Bovenkerk-Müller.