„Ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns.“ Dieses Zitat stammt von Franz Kafka. Es verwundert nicht, dass Paul Lynch, Booker Prize Träger 2023, in den Medien bisweilen als „Kafka dieses Jahrhunderts“ bezeichnet wird. Denn dieses Buch tut weh. Es erschüttert unser tiefstes Inneres von der ersten bis zur letzten Seite. Der vermeintlich dystopische Plot ist längst Realität, nicht im vermeintlich demokratischen Westeuropa, sondern in anderen Teilen der Erde, die man gemütlich ausblenden und wegzappen kann. Doch Lynch holt uns ein. Er transferiert die Schrecken von Diktatur und Fanatismus ins Irland der nahen Zukunft, mitten in die EU.
Hausbesuche ohne Wiederkehr? Ausgrenzung und Demütigung Andersdenkender? Straßenkämpfe, Folter, Tod, Zusammenbruch des Systems – bei uns in Europa nicht denkbar? Doch. Wie Paul Lynch den Schrecken eines autokratischen Systems über die Welt von Eilish und Larry Stark hereinbrechen lässt, ist ganz große Literatur. Sie sind aufgeklärte Menschen, die an die Vernunft glauben. Nur dass dieser Wert unter der tyrannischen, rechtsnationalen Regierungspartei eben nichts mehr wert ist.
Abstieg im autokratischen System
Paul Lynch holt uns gleich auf der ersten Seite ab. Die vielbeschäftigte Vierfachmutter und Molekularbiologin Eilish Stark steht am Fenster, schaut in den Garten. Sie möchte den Tag ruhig ausklingen lassen, ist in Gedanken bei ihrer nächsten To-Do-Liste. Bis sie ein beharrliches Hämmern an der Tür vernimmt, „ein jedes Klopfen so vom Klopfenden erfüllt, dass sie die Stirn runzelt.“ (S. 9). Vor der Tür steht die Geheimpolizei und bittet ihren Ehemann Larry, einen bekannten Lehrergewerkschaftler, zum Gespräch. Das Ehepaar möchte sich nicht unterkriegen lassen. Doch nach einer Demonstration verschwindet Larry spurlos. Plötzlich gilt die ganze Familie als „Sicherheitsrisiko“. Wie Eilish nun versucht, sich gegen den Abstieg und den Strudel des Niedergangs zu wehren, liest sich atemlos. Alltagsbanalitäten werden zum Spießrutenlauf, die Firma ihres Arbeitgebers wird von Andersdenkenden gesäubert, ihr 17-jähriger Sohn soll zum Militärdienst eingezogen werden. Von Larry fehlt jedes Lebenszeichen. Daneben muss sie sich um ihr Neugeborenes und ihren dementen Vater kümmern. Hinzu kommt der Zwiespalt – soll sie sich wehren und ihre Familie in Gefahr bringen? Oder soll sie sich ducken, um keine Angriffsfläche zu bieten?
Schließlich kommt es zum Bürgerkrieg. Die gesellschaftliche Ordnung steht vor dem Kollaps. Menschen versuchen, die Probleme auszusitzen, im Glauben, dass die Vernunft doch obsiegen oder das Ausland eingreifen möge. Auch Eilish lehnt das Angebot ihrer in Kanada lebenden Schwester ab, das Land zu verlassen. Eine Entscheidung, die sie noch bitterlich bereuen wird. Denn die Gewaltspirale ist längst im Gange, auch abseits von Militär und Regierung. Marodierende Banden, gierige Schlepper, korrupte Gefängnisbeamte und verblendete Mitläufer sind überall. Dazwischen immer wieder Gesten der Menschlichkeit und sei es nur ein einfacher Haarschnitt.
Atemloses Erzähltempo
Stilistisch verkörpert Lynch die Geschwindigkeit, in welche Eilish Richtung Abgrund rutscht, durch das völlige Fehlen von Absätzen und Interpunktionszeichen der wörtlichen Rede. Dialoge und Geschehnisse lesen sich aus einem Guss, erzeugen einen Sog, als ob Wasser in einem Strudel den Abfluss hinabrinnt. Dies schafft eine im wahrsten Sinne des Wortes beklemmende Spannung ohne Verschnaufpause. Oft bezieht Lynch Bilder aus der Natur mit ein oder lässt seine Protagonistin von außen auf sich selbst und die Geschehnisse blicken, wenn sich Körper, Geist und Seele voneinander entkoppeln, um überhaupt weiterleben zu können. Besonders starke Bilder schafft Lynch, wenn er Eilishs vier Kinder miteinbezieht, denn in seiner Dankesrede zum Booker Prize Gewinn hob er besonders die schützenswerte Unschuld der Kinder in allen Krisengebieten dieser Welt hervor.
Ein Beispiel: Ihre 14-jährige Tochter Molly verfällt in Depressionen, glaubt, dass sie alle sterben werden und der Vater mittlerweile tot sei. „Sie schäumt Molly die Haare ein, betastet sanft den Schädel, spürt ihren Geist durch die Finger, was sie wohl übers Leben denkt, dieser Geist, der so erfüllt war von der Welt, aber diese Welt ist jetzt weg, ist aus ihren Augen geströmt. (…) Molly hebt das Gesicht, doch das Gesicht ist leer und ungeschützt, als wäre aller Schmerz verschwunden und nur noch Schauen da, ein Schauen aus einem unbewohnten Körper …“ (S. 199).
Oder als Eilish mit ihrem Neugeborenen während eines Straßengefechts im Bett liegt und sich fragt, ob das Baby ihre ständige Angst riecht, das Trauma in sich aufnimmt und sie „einen beschädigten Mann im Arm hält“. (S. 227).
Hochverdienter Booker Prize 2023!
Fazit: Ein von der ersten Seite an packendes, erschreckendes Buch. Völlig zurecht mit dem Booker Prize ausgezeichnet. Sprachlich rasant, emotional aufwühlend. Es zeigt, wie fragil die Demokratie ist. Wer sich fragt, warum die Juden während der NS-Zeit nicht früher geflohen sind, warum sich die Massen nicht gewehrt haben, wie Konflikte in Ländern wie dem Iran bis heute derart eskalieren konnten, der erhält hierauf eine ebenso erschreckende wie einfache Antwort: Weil die Menschen schlicht nicht daran geglaubt haben, dass so etwas passieren könne. Und weil das System aus Unterdrückung und Gewalt, aus Angst und Bequemlichkeit, aus Kampf und Flucht erstaunlich schnell greift. So enden wir wieder am Meer, in gespiegelter Perspektive. Die Axt hat ganze Arbeit geleistet.
Paul Lynch: Das Lied des Propheten.
Aus dem Englischen von Eike Schönfeld.
Klett-Cotta, Juli 2024.
320 Seiten, gebundene Ausgabe, 26,00 Euro.
Diese Rezension wurde verfasst von Diana Wieser.