Otto Jägersberg: Abendblätter

Kurz und knackig auf den Punkt gebracht, aber mit viel Tiefgang. Abendblätter ist eine Mischung von Kurzgeschichten und Alltagsbeobachtungen, die bisweilen bis auf die Größe von Aphorismen verdichtet sind. In 134 Kapiteln verpackt Otto Jägersberg Buchtipps und Dichter, historische Anekdoten, Einblicke in seine Heimat im Schwarzwald und Kurioses aus dem Bereich des Zwischenmenschlichen. Keine Lust auf fette Schmöker? Dann ist diese Kürzest-Literatur, die Ihr Gehirnschmalz auf Trab hält und Ihnen dabei so manches Grinsen entlocken wird, genau das Richtige!

Die Zahnpasta als Metapher fürs Leben

Morgens beim Zähneputzen geht es los. Protagonistin Brigitte vergleicht ihr Leben mit der wurmartigen Geschmeidigkeit, mit welcher die Zahnpasta aus der Tube gedrückt wird. „So ist mein Leben, dachte sie. Da dreht einer, und ich gehe auf, ich gleite in den Tag. Wer aber dreht an ihr? Ihr Mann, die Kinder, Gott?“. Mit solchen Gedanken wird selbst ein bloßes Bad zum Blick in den Abgrund des Alltags. Mit nur sieben Sätzen schafft Jägersberg Szenen, die sich beim Lesen festsetzen. Sie muten harmlos an, bis sich der bittersüße Beigeschmack an die Oberfläche bahnt.

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Joseph Conrad: Herz der Finsternis (1899)

Des Menschen Gier ist unersättlich. Davon zeugt diese 1899 erstmals erschienene und nun bei Diogenes deluxe Verlag neu aufgelegte Geschichte von Joseph Conrad. Forscher, Goldsucher, Händler, Abenteurer – im Text beschönigend als „Pilger“ bezeichnet – ziehen in die Schwärze des afrikanischen Kontinents, immer weiter am Fluss Kongo entlang. Dort bringen sie nicht etwa den vermeintlichen Fortschritt, sondern schröpfen den Kontinent bis aufs Blut. Von Bodenschätzen über Elfenbein bis hin zu den Menschen, den Sklaven. Entrechtet, ausgebeutet, gefoltert, getötet: Diese von Conrad beschriebenen Szenen wirken bisweilen wie ein Fiebertraum, wie ein Delirium, erschreckend nah und distanziert-abgeklärt zugleich.

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JP O’Conell: Sommer im Hotel Portofino

Auch im zweiten Teil seiner Bandreihe rund um ein mondänes Hotel an der ligurischen Küste im Italien der 1920er Jahre mixt der britische Autor JP O’Connell einen literarischen Sommercocktail mit den richtigen Zutaten: verbotene Liebschaften aller Art, Fortschritt versus Faschismus, Bilderbuchlandschaften gepaart mit nostalgischem Chic. Plus Frauen, die sich emanzipieren und Männern, denen das zumeist gar nicht passt.

Das Jahrzehnt der 1920er Jahre ist wie geschaffen für spannende Storys voller Sprengstoffpotenzial, da sich die Welt zu dieser Zeit in verschiedene Richtungen entwickelt. Das Beispiel Italien zeigt dies besonders deutlich. Hier machen einerseits mondäne, weltoffene Menschen Urlaub, während sich im Hintergrund seit der Machtübernahme Mussolinis im Jahr 1922 bereits die ersten Schrecken des Faschismus zusammenbrauen. Frauen zelebrieren ihre neue Freiheit rund um Frauenwahlrecht und bejubeln Josephine Baker im Bananenröckchen, während die „Braunhemden“ ihnen nach und nach ihre Besitzansprüche entziehen wollen und sie lieber als Heimchen am Herd sehen. So ist der zweite Teil der „Downton Abbey“-ähnlichen Buchreihe noch spannender und tragischer. Für so manche/n Protagonist/in wartet kein Happy End hinter dem Sonnenuntergang! Weiterlesen

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Javier Zamora: Solito

Ein Buch, so schön und schrecklich, wie es nur das Leben selbst schreiben kann. In diesem herzergreifenden Roman, der unter anderem mit dem Los Angeles Times Book Prize ausgezeichnet wurde, nimmt uns Javier Zamora mit auf seine Flucht als Neunjähriger im Jahr 1999. Es geht von El Salvador Tausende von Kilometern nordwärts nach „La USA“, auf Booten, Trucks, zu Fuß durch die Wüste. Seine Flucht absolviert er auf sich gestellt, „solito“, ohne seine Eltern, die bereits in der USA auf ihn warten. Mit 40 anderen Personen und ein paar „Polleros“, alias Schleusern, beginnt eine beängstigende Odyssee. Unterwegs begegnet er Menschen, die es mal gut, mal schlecht mit den Migranten meinen. So ist Javier Zamoras literarisches Glanzstück ein Plädoyer für Menschenwürde, Zusammenhalt und Empathie. Extrem kraftvoll, ohne je kitschig zu sein.

Auf der Fluchtroute findet Javier eine neue „Ersatzfamilie“, zumal sich diese vor der Grenzschutzpolizei auch als solche ausgibt. Da ist Patricia, die sich mit ihrer 10-jährigen Tochter Carla zu ihrem Mann und ihrer jüngeren Tochter in die USA durchschlagen will. Da ist Chino, noch mit Akne übersät und gerade selbst erst den Kinderschuhen entwachsen, der unversehens in eine Vaterrolle hineinwächst. Er tröstet Javier, als ihm auf dem Boot schlecht wird, er trägt ihn durch die Wüste, als er nicht mehr laufen kann, er steht ihm im Gefängnis bei, während sich andere längst abgesetzt haben. So entstehen Bande, die übermenschliche Kräften verleihen, um Unmenschliches zu bezwingen.

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Eshkol Nevo: Trügerische Anziehung

Faszinierend, mehrdeutig und brillant geschrieben: Eshkol Nevos Prosa lässt auch nach dem Lesen noch lange nicht los. In drei Geschichten behandeln Themen rund um Liebe, Begehren, (Selbst-) Täuschung, Verlust. Nichts ist wie es scheint. Wer glaubt, den Plot einordnen zu können, sieht sich unverhofft mit einer neuen Ebene konfrontiert, die das Gelesene in ein neues Licht rückt. Daneben wirft der Autor ein vielschichtiges Bild auf das Leben im heutigen Israel zwischen Militärdienst, terroristischen Bedrohungen, Start-up-Stimmung und lebensfrohen Raves. Themen, die auf schmerzhafte Weise von der Realität eingeholt wurden.

Facetten der Liebe in drei faszinierenden Storys

In der ersten Geschichte zieht der 39-jährige Omri als Backpacker durch Bolivien, als Auszeit nach seiner Scheidung. Eine Aktivität, die Israelis normalerweise als „Jahr-nach-dem-Militärdienst“ unternehmen. Er trifft auf einer junges, frisch verheiratetes Ehepaar. Mit der Ehefrau Mor scheint etwas nicht zu stimmen, denn Flitterwochenglück sieht anders aus. Sofort fühlen sich die beiden zueinander hingezogen, auch dann, als Mors Ehemann auf mysteriöse Weise auf dem „Camino de los Muertos“ – der Straße der Toten – ums Leben kommt. Omri besucht Mor auf der Schi’wa, dem siebentägigen „Trauersitzen“. Eine tragische Beziehung nimmt ihren Lauf. Sind es wahre Gefühle oder benutzt die mysteriöse Mor Omri für eigene Zwecke?

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Eleanor Elliot Thomas: Das Gegenteil von Erfolg

Es ist einfach zu köstlich, mitzuerleben, wie zwei Freundinnen unaufhaltsam auf die größten Katastrophen ihres Lebens zusteuern. Sämtliche Versuche das Unglück abzuhalten, sind absolut kontraproduktiv und befeuern die Probleme eher. Könnte allerdings auch an den gewählten Methoden liegen. Denn weder Alkohol noch Affären, weder modische Jumpsuits noch eine erfundene „Schamkrebs“-Erkrankung, weder übereifrige Streberkollegen noch militante Klimaaktivsten tragen zur Deeskalation der Sachlage bei.

Selten war Scheitern witziger!

Eigentlich sollte es der Tag des Triumphs für die 38-jähriger Australierin Lorrie werden. Die zweifache Mutter hat zwar mit einigen Pfunden zu kämpfen, doch sie hat einen Mann, der sie liebt, zwei bezaubernde Töchter und nun auch noch eine Beförderung als Teamleiterin bei der Stadtverwaltung in Aussicht. Zudem soll heute Abend ihr Projekt „Green Cities“ eingeweiht werden – großflächige Dachbegrünungen auf dem Glup Center for Contemporary Art. Das Gebäude gehört einem nicht ganz unumstrittenen Öl-Magnaten, Multimillionär und Mitsponsor des Projektes. Leider entwickelt sich der schicksalsträchtige Tag ganz anders, als erwartet.

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Eric Pfeil: Ciao Amore, Ciao

Musikalischer Reiseführer der besonderen Art

Sehnsuchtsland Italien. Ein Land mit 1000 Widersprüchen, denen Eric Pfeil auch mit seinem zweiten Buch nach „Azzurro“ auf musikalischem Wegen nachgeht. Ob die Liebe für Bars, Essen und Mode, der Hang zu großen Gesten, permanentem Hupen oder lautstarker Kommunikation, Italien steht für überschäumende Lebensfreude. Genauso wie für unliebsame Geschichtskapitel vom Faschismus über linksradikale Anschläge bis zu umstrittenen Persönlichkeiten wie Silvio Berlusconi oder Georgia Meloni. Von Mafia bis Gelato, von Sanremo bis Palermo, von Adriano Celentano über Ennio Morriconeund Jovanottibis Calcutta, dieses Buch ist für jeden Italienfan ein Muss! Was sich hier auf Musikfestivals und im TV tut, würden Sie nicht für möglich halten! Stets auf dem Drahtseil des guten Geschmacks tänzelnd, sind manche Darbietungen des Italo-Pop nicht nur Nostalgie, sondern Kult. Die Süße im literarischen Espresso dieses Werkes liegt zweifelsohne in Pfeils humorvoller, lautmalerischer Fabulierkunst. Wer Italien verstehen will, sollte seine Musik verstehen. Eric Pfeil erweist sich hier als überragender Guide und geleitet mit 100 alten und neuen Songs durch Italien.

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Margarita Garcia Robayo: Das Paket

Margarita Garcia Robayo hat einen äußerst doppelbödigen und originellen Roman über Themen wie Entwurzelung, Herkunft, Familie und soziale Bindungen in einem Zeitalter des ständigen Unterwegsseins geschrieben. Die Ich-Erzählerin ist von Kolumbien nach Buenos Aires gezogen, um dort als Werbetexterin zu arbeiten. Nun erhofft sie sich ein Stipendium in Europa. Sie lebt ihr Leben so, dass sie es überall tun könnte. Ihre größte Fähigkeit sei es, „das, was ich tue in jedem Einzimmerappartement auf diesem Planeten erledigen zu können – eine anständige Internetverbindung vorausgesetzt. Ich bin so oft umgezogen, ohne Einbrüche. Das Geheimnis war, mit dem unerlässlichen Minimum zu leben …“ (S. 85).

Beziehungen im Zeitalter des Internets
Die Protagonistin wird als kluge und gewitzte Grüblerin gezeichnet. Sie lebt in einem Appartement im obersten Stock und erfreut sich an der Schönheit eines nicht vollendeten Bauskeletts, auf den der Blick von ihrer Terrasse fällt. Ihre Beziehungen sind alle von einer gewissen Unverbindlichkeit geprägt. Mit ihrer Mutter hat sie seit Jahren kaum noch Kontakt, mit ihrer besten Freundin hat sie sich zerstritten und ihre neue Beziehung vermag sie nicht einzuordnen. Ist sie für ihren Freund Axel nur ein körperlicher Zeitvertreib oder gibt es eine gemeinsame Zukunftsplanung?

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Sarah Brown: Katzen und ihre geheime Sprache

Sie sind die beliebtesten Haustiere Deutschlands. Rund 15,7 Millionen Katzen teilen hierzulande das Sofa mit ihren Zweibeinern. Auf dem Weg dorthin mussten Katzen über sich selbst hinauswachsen: Katzen haben im Gegensatz zu Hunden, deren Vorfahren bereits in sozialen Rudeln lebten, eine gewaltige kommunikative Metamorphose hinter sich. Sie entwickelten sich von den solitär lebenden Einzelgängern, die überwiegend aus der Distanz über Duftmarken kommunizierten bis hin zu den miauenden, schnurrenden Fellknäueln von heute. Katzen haben nicht nur für den Menschen neue Signale entwickelt, sondern auch für ihre eigene Spezies. Und das machen perfekt! Beispiel: Ihr Miauen bewegt sich auf einer Frequenz von 604 Hertz und ist damit nahezu identisch mit der Frequenz von Babyweinen. Wildkatzen wie Ozelot oder Jaguar können sogar die Rufe von Vögeln nachahmen, um sie anzulocken. Sie sind ein Erfolgsbeispiel der Evolution, ein Meister der Anpassung. Das macht Mut und begeistert. Ganz egal, ob man ein Fan der grazilen Samtpfoten ist oder nicht.

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Bernardine Evaristo: Zuleika

Grotesk, genial, genreübergreifend. Was Booker-Prize Trägerin Bernardine Evaristo da zu Papier gebracht hat, fordert Lesegewohnheiten heraus und feiert die Fabulierkunst in all ihren Facetten.Zuleika liest sich so, als ob eine Rapperin Aristoteles und Shakespeare zu einem literarischen Stelldichein einladen würde. Die Form des Plots ist in Versen, in Paarzeilen, mit Enjambements (Zeilensprüngen) geschrieben.

Evaristo springt nicht nur durch Genres und Zeilen, sondern durch ganze Geschichtsepochen. Der Roman spielt in London des Jahres 211 n. Christus. Doch Zuleika kommentiert ihre Umgebung so rotzfrech und modern, dass der Plot genauso gut von einer Influencerin im heutigen New York verfasst sein könnte. Ein herausragendes Werk, welches beweist, dass Sprache auch im Zeitalter von ChatGPT noch richtig Spaß machen kann.

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