Faszinierend, mehrdeutig und brillant geschrieben: Eshkol Nevos Prosa lässt auch nach dem Lesen noch lange nicht los. In drei Geschichten behandeln Themen rund um Liebe, Begehren, (Selbst-) Täuschung, Verlust. Nichts ist wie es scheint. Wer glaubt, den Plot einordnen zu können, sieht sich unverhofft mit einer neuen Ebene konfrontiert, die das Gelesene in ein neues Licht rückt. Daneben wirft der Autor ein vielschichtiges Bild auf das Leben im heutigen Israel zwischen Militärdienst, terroristischen Bedrohungen, Start-up-Stimmung und lebensfrohen Raves. Themen, die auf schmerzhafte Weise von der Realität eingeholt wurden.
Facetten der Liebe in drei faszinierenden Storys
In der ersten Geschichte zieht der 39-jährige Omri als Backpacker durch Bolivien, als Auszeit nach seiner Scheidung. Eine Aktivität, die Israelis normalerweise als „Jahr-nach-dem-Militärdienst“ unternehmen. Er trifft auf einer junges, frisch verheiratetes Ehepaar. Mit der Ehefrau Mor scheint etwas nicht zu stimmen, denn Flitterwochenglück sieht anders aus. Sofort fühlen sich die beiden zueinander hingezogen, auch dann, als Mors Ehemann auf mysteriöse Weise auf dem „Camino de los Muertos“ – der Straße der Toten – ums Leben kommt. Omri besucht Mor auf der Schi’wa, dem siebentägigen „Trauersitzen“. Eine tragische Beziehung nimmt ihren Lauf. Sind es wahre Gefühle oder benutzt die mysteriöse Mor Omri für eigene Zwecke?
In der Geschichte „Familiäre Vorbelastung“ stürzt sich der 68-jährige Oberarzt Dr. Asher Caro nach dem Tod seiner Frau ganz in seine Arbeit. Die junge Assistenzärztin Liat erregt sein Interesse. Sie ist intelligent, attraktiv und anders. Mit ihr kann er sich über Themen wie seine Leidenschaft für Schubert-Musik austauschen. Als Liat eine Beziehung mit dem manipulativen Herzensbrecher der Klinik beginnt, will Asher sie beschützen und überschreitet Grenzen. Für ihn sind es väterliche Gefühle, für Liat nicht. So sieht sich Dr. Caro scheinbar unverhofft einer Klage wegen sexueller Belästigung ausgesetzt.
Rave ohne Wiederkehr
Eshkol Nevo hat dieses Buch während des Lockdowns geschrieben. Die dritte Story „Ein Mann tritt ins Paradies“ wird jedoch auf geradezu unheimliche Art von den Ereignissen des 7. Oktober 2023 eingeholt, als Hamas-Terroristen Hunderte von Menschen von einem Musikfestival entführten und ermordeten. Bei einem Wochenendspaziergang durch einen Obstgarten, in dessen Nähe auch Raves abgehalten werden, muss Chellis Ehemann Ofer kurz hinter den Bäumen austreten und taucht nie wieder auf. Wurde er von Terroristen entführt? Hat er Selbstmord begangen? Oder hat er sich durch seine karitative Arbeit – bei der er Juden beim Ausstieg aus ihrer ultraorthodoxen Glaubensgemeinschaft unterstützte – Feinde gemacht? Chelli begibt sich auf Spurensuche, bei der auch eigene Geheimnisse ans Tageslicht kommen.
Interpretationsebenen des Buches
Eshkol Nevo gibt in seinem Buch keine eindeutigen Antworten, weshalb die Stories noch lange nachhallen. Oft bleibt unklar, was ist Traum, was ist Einbildung, was Realität? Gibt es mehr als eine Wahrheit? In der „Paradies“-Geschichte wird dies besonders deutlich. Zu Beginn zitiert der Autor den Talmud und das Wort Pardes, das für Garten und Paradies steht. „Als Akronym verweist PaRDeS auf vier Stufen des Textverständnisses: die wörtliche (Pschat), übertragene (Remes), interpretative (Drasch) und mystische Bedeutung (Sod)“ (S. 216). Vor diesem Hintergrund sollten alle Geschichten von Eshkol Nevo gelesen werden.
Ein gelungenes Beispiel sind hierfür die „100 x 100 Geschichten“ (100 Geschichten à 100 Wörter), die der verschwundene Ofer im Internet hochgeladen hat. Gemeinsam mit ihrer Tochter versucht Chelli die Subebenen zu entschlüsseln, um einen Hinweis auf Ofers Verbleiben zu erhalten. Meisterlich verpackt Nevo hier mehrere, verschachtelte Erzählebenen ineinander.
Einblicke ins moderne Israel in herzergreifenden Szenen
Letztendlich zeichnet der erfolgreiche israelische Autor ein Bild des modernen Israel. In fast beiläufigen Alltagsszenen lässt er die Schrecken der Geschichte einfließen, ohne plakativ oder gar belehrend zu wirken. Ein Protagonist wacht nachts auf, weil ihn Erinnerungen an seinen Einsatz im Suez-Krieg aufgeweckt haben. Ein Palästinenser steht mit einer Platte Süßigkeiten vor der Haustür des Arztes, weil er sich bei dessen verstorbener Frau bedanken wollte, die seinem schwerkranken Sohn in der mobilen Hilfsstation kostenlose Medikamente zukommen ließ. Passanten beraten sich, ob man nach dem Verschwinden Ofers nicht unverzüglich die Polizei rufen sollte: „Die werden nicht kommen, man muss vierundzwanzig Stunden warten, bevor sie eine Person für vermisst erklären. Daraufhin die Erste: Nicht wenn Verdacht auf politisch motivierte Kriminalität besteht. Sie muss sagen, dass sie ein Palästinensertuch durch die Büsche verschwinden sehen hat oder so.“ (S. 224). Ein Satz in dem ein jahrzehntelanges Drama verborgen ist. Vom Emigration bis zu Postmilitär-Depression, von feingeistiger Musik zu animalischem Tanz – wer mehr Einblicke in das Land in Nahost gewinnen möchte, ist mit diesem außergewöhnlich wertvollen Roman gut beraten.
Auf literarische Ebene kann Nevo locker mit den ganz Großen der jüdischen Erzählkunst mitmischen. Mühelos folgt er deren literarischen Spuren ins Hier und Jetzt. Sein Abtauchen in den Paradiesgarten trägt fast schon kafkaeske Bezüge, während sich Raver über seine feinsinnige Auflösung des Songs „God is a DJ“ freuen dürften. Absolute Leseempfehlung!
Eshkol Nevo: Trügerische Anziehung.
Aus dem Hebräischen von Ulrike Harnisch.
dtv, Mai 2024.
304 Seiten, Hardcover, 24,00 Euro.
Diese Rezension wurde verfasst von Diana Wieser.