„Bitte der Reihe nach lesen.“
Saša Stanišić wurde 1978 in Višegrad im ehemaligen Jugoslawien geboren. 1992 flüchtete er mit seinen Eltern nach Heidelberg. Aktuell lebt Saša Stanišić mit seiner Familie in Hamburg. 2014 erhielt er für seinen Roman „Vor dem Fest“ den Preis der Leipziger Buchmesse. Für das Buch „Herkunft“ aus dem Jahr 2019 bekam er den Deutschen Buchpreis. Nun erschien am 30. Mai 2024 im Luchterhand Literaturverlag Stanišićs neuestes Werk mit dem langen Titel „Möchte die Witwe angesprochen werden, platziert sie auf dem Grab die Gießkanne mit dem Ausguss nach vorne“. Darin sind zwölf Episoden, die – so die Bitte des Schriftstellers an die Leserinnen und Leser – „nach der Reihe“ gelesen werden sollen.
„Aber wo war vorne?“
Das fragt sich Gisela, „gern nur Gisel“, beim Abstellen der Gießkanne am Grab ihres Ehemannes Hermann, das sie trotz Knieschmerzen und Traurigkeit seit vier Jahren jeden Tag besucht, in der Titelgeschichte des Buches. Und auch Herr Leip, Johann Leip, der Friedhofsbesucher und Witwer mit der Schiebermütze und dem Fischgrätenjackett, kennt den Gießkannencode. Und er ist „Landesmeister von Schleswig-Holstein im Schmieren von Broten“.
Aber nun der Reihe nach: In „Neue Heimat“ erfindet der sechzehnjährige Fatih an einem heißen Sommertag in den Weinbergen mit seinen Kumpels den „Proberaum für das Leben“. Zehn Minuten Zukunft für hundertdreißig Mark. Wer wollte das nicht?
Für die Putzfrau Dilek Imamoğlu in der „Traumnovelle“ hingegen bleibt die Zeit stehen. Da legt sie sich in die Badewanne und träumt von ihrem eigenen Glück.
Georg Horvath, der Jurist in Elternzeit, der uns in den nächsten drei Geschichten begegnet, versucht mit einem Trick, gegen seinen Sohn Paul im Piraten-Memory zu gewinnen.
Aber was hat das alles mit Helgoland zu tun?
Nun ja, dafür muss man die anderen Geschichten lesen und ertappt den Ich-Erzähler (Saša Stanišić) bei einer faustdicken Lüge, entdeckt die Freiheit und Heinrich Heine am Strand oder sieht sich mit dem Diebstahl eines Kneipenschildes konfrontiert.
Außerdem erzählt Stanišić von einer Doppelkopfrunde, in der der hitzeschlaggeschädigte Mo von dem Reichsbürger Siggi ersetzt wird und ein Panzer mit rosa Schleife durch Winsen an der Luhe rattert.
Gegen Ende des Buches machen die Protagonisten der Geschichten eine „Anprobe“ im Proberaum für das Leben in der Zukunft. Aber es gibt eine Ausnahme.
Und die letzte Geschichte heißt wie die erste und erzählt einen anderen Ausgang.
Außergewöhnlich, erfrischend und leicht!

Saša Stanišićs „Möchte die Witwe angesprochen werden, platziert sie auf dem Grab die Gießkanne mit dem Ausguss nach vorne“ hat nicht nur einen außergewöhnlich langen Titel, sondern ist in Stil und Sprache außergewöhnlich, wie z.B. in „Es pfeift der Wind bei hohler See, nicht Mond, nicht Stern ist in der Höh’; doch halten fest wir im Gesicht auf fernem Turm der Heimat Licht, wohin wir oft uns fanden“ (aus dem Helgolander Fischerlied von Johann Peter Eckermann, das er 1834 schrieb. Der deutsche Dichter, Schriftsteller und Vertrauter von Johann Wolfgang von Goethe war ein „Lieblingsfeind“ von Heinrich Heine):
„Diese Geschichte beginnt im Inselkrug, Helgolands ältestem Lokal. Im ersten Absatz betrete ich das Lokal und sage: »Guten Tag, ein Bier bitte.« Es ist der 6. April 2023, 16 Uhr 40. Hinter dem Tresen poliert eine Frau im Metallica-T-Shirt ein Teekännchen. Sie mustert mich – wie es im Text heißt – ›unangenehm lange‹, bevor sie ›mit kopfschüttelnder Stimme‹ sagt: »Setzn Sie sich doch erst mal.«“ (S. 97)
Ein virtuoses Spiel mit den Erzählebenen und reich an Anspielungen.
Saša Stanišić schreibt meisterlich außergewöhnlich und damit ganz herrlich erfrischend und wunderbar leicht: Es ist ein Buch wie eine „Anprobe“. Bitte unbedingt lesen, aber „Bitte der Reihe nach“.
Saša Stanišić: Möchte die Witwe angesprochen werden, platziert sie auf dem Grab die Gießkanne mit dem Ausguss nach vorne.
Luchterhand Literaturverlag, Mai 2024.
256 Seiten, Hardcover, 24,00 Euro.
Diese Rezension wurde verfasst von Sabine Sürder.
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