Irene Vallejo: Elyssa, Königin von Karthago

Aeneas ist nach der Ilias und der Odyssee (beide werden Homer zugeschrieben) das wohl drittwichtigste Epos der antiken Mythologie. Geschaffen wurde das Werk von dem römischen Autor Vergil. Auf den titelgebenden Held Aeneas geht die Gründung des Römischen Reichs zurück. So weit, so gut. Wie der Name vermuten lässt, liegt die Perspektive ganz auf der männlichen Hauptfigur. Die spanische Autorin Irene Vellejo rückt in ihrem Werk eine Herrscherin der Aeneas-Sage in den Vordergrund, die es in puncto Bedeutung locker mit Aeneas aufnehmen kann: Elyssa, Gründerin und Königin von Karthago. Warum hat es diese nicht zu derartigem Weltruhm gebracht? Wie so oft, ereilt Herrscherinnen in der antiken Mythologie ein viel zu frühes, tragisches Ende. Irene Vellejo mag am Tod Elyssas nichts ändern, stellt aber bewährte Rollenklischees auf den Kopf. Dafür bedient sie sich einiger Stilmittel, wie ungewöhnlichen Erzählperspektiven und der Verschmelzung von Zeitebenen.

Vom Trojanischen Krieg zur tragischen Liebesgeschichte
Kein großes, antikes Werk ohne den Trojanischen Krieg! Die Aeneas bildet da keine Ausnahme. Aeneas hat im Trojanischen Krieg gekämpft und ist nach dem Fall der Stadt mit seinem alten Vater, seinem kleinen Sohn Iulus und einigen Gefolgsleuten geflohen. Laut einer Prophezeiung des Orakels ist er dazu bestimmt, sich in einem Land im Westen, das manche Italien nennen, niederzulassen und dort ein neues Weltreich gründen. Doch eigentlich möchte Aeneas momentan einfach nur Ruhe und Frieden. Seine Frau hat er auf der Flucht verloren, sein Vater ist gestorben, sein Sohn trauert, die Männer auf den Schiffen sind ausgezehrt. Ein Unwetter lässt die Boote Schiffbruch erleiden und spült sie an eine unbekannte Küste. Hier sitzt eine Frau auf dem Thron: Elyssa, die Gründerin von Karthago.

Beide fühlen sich, dank den Ränken des Liebesgott Eros im Hintergrund, sofort zueinander hingezogen. Ihr Schicksal eint sie: Beide sind adligen Geschlechts, beide mussten aus ihrer Heimat fliehen, beide sind dazu bestimmt, im Exil neue Weltreiche zu gründen. Während Troja in Trümmern liegt, ist Karthago mit seinen riesigen Stadtmauern und dem großen Handelshafen am Erblühen. Doch hinter den Kulissen brodelt es. Immer wieder kommt es zu Auseinandersetzungen mit lybischen Stämmen, denen Elyssa durch eine List das Land abgenommen hat. Noch dazu hat Elyssa ein Problem: Kinderlos und verwitwet, drängen sowohl die nordafrikanischen Stammesfürsten, als auch ihre führenden Kriegsherren darauf, Elyssas Bett und Thron zu besteigen.

Die Macht liegt bei der Frau
Machthungrige Männer, besänftigende Frauen? Dieses ausgediente Rollenklischee bedient Vallejo nicht. Aus ihrer Heimatstadt Tyros musste Elyssa fliehen, nachdem ihr Bruder Pygmalion ihren Ehemann ermorden lassen hatte, weil er befürchtete, dass ihm beide seinen Thron entreißen. Auf der Flucht führte Elyssa ihre Halbschwester Anna mit, die von ihren Landsleuten als „Tochter einer Hexe“ und mit einem Muttermal im Gesicht gemieden wurde. In Karthago wird Anna als Seherin eingesetzt, die rituelle Handlungen durchführt. Fast noch ein Kind sehnt sie sich nach Spielgefährten (in Karthago wurde bislang kein einziges Kind geboren) und erkennt, dass dieselben Machtränke, die sie aus Tyros vertrieben haben, sie auch in Karthago in Gefahr bringen werden. Anna bekniet ihre Schwester, woanders neu anzufangen. Doch Karthago ist Elyssas Lebenswerk. Endlich auf dem Thron will Elyssa die Visionen eines Weltreiches umsetzen – um jeden Preis. Sie träumt zwar von einer florierenden, fortschrittlichen und friedlichen Stadt, doch um diese zu erlangen, sind ihr auch brutale Mittel recht. So billigt sie Folter, Versklavung und letztlich auch Krieg. All dies sowie eine sehr persönliche brutale Episode liegen bereits hinter Aeneas. Der zehnjährige Trojanische Krieg hat ihn erkennen lassen, dass es Zeit für ein neues Weltreich wird, dass auf Gesetzen und Frieden fußt, statt auf dem Recht des Stärkeren.

Eros als humoristischer Erzähler
Sinnliche und gewalttätige Szenen wechseln sich in Vallejos Plot wohltemperiert ab. Zudem hat Vallejo mit dem Liebesgott Eros eine amüsante Erzählebene eingebaut. Seine knochentrockenen Kommentare über die „erstaunlichen Geschöpfe“ der Erdenbewohner, denen die eigene Gefühlswelt fremd bleibt, sind einfach zu köstlich. Als allwissender Gott kann er die Sehnsüchte, Ängste und Eitelkeiten der Menschen durchschauen, er erkennt die Diskrepanz zwischen Sagen, Tun und Selbsttäuschung. Während er „zufällige“ Begegnungen auf Dachterrassen unter sternenklaren Nächten inszeniert, kommt ihm eine wichtige Erkenntnis: „Die Sterblichen, diese vergänglichen Wesen, können sich gar nicht vorstellen, wie heikel und wie verblüffend mühselig es ist, ihre Liebschaften zu fördern. In menschlichen Angelegenheiten gleitet alles so leicht, so unmerklich Richtung Konflikt …“ (S.193).

So liegt in Eros ironischen Kommentaren viel Weisheit verborgen. Ebenso in der kindlichen Perspektive Annas, die selbst nicht in die endlosen Ränkespielen um Macht und Sieg involviert ist. Die vierte, maßgebliche Perspektive unterliegt einem Zeitsprung. Viele Generationen später begleiten wir beim Lesen dem römischen Dichter Vergil, der ziellos durch die Gassen Roms treibt. Der Herrscher drängt ihn dazu, die Größe Roms durch eine Dichtung über Aeneas zu huldigen. Doch Vergil ist durch eine Schreibblockade wie gelähmt. Denn Intrigen, Korruption und Machtspielereien sind auch im „zivilisierten“ Rom an der Tagesordnung.

Und die Moral von der Geschichte?
Wie transferiert man die antike Mythologie ins 21. Jahrhundert? Ganz einfach, indem man das „unabänderliche“ Schicksal als das offenbart, was es ist: menschliches Versagen beziehungsweise menschliches Triumphieren! Nicht das Orakel, sondern Emotionen sind Triebfeder der Geschichte. Die Menschen mögen Religion oder die Götterwelt als Rechtfertigung heranziehen, für ihr Schicksal zeichnen sie jedoch selbst verantwortlich. Irene Vallejo, die klassische Philologie an den Universitäten von Saragossa und Florenz studiert hat, gelingt der Brückenschlag von der Antike in die Moderne ganz vorzüglich. Die Lehren aus der Geschichte sind mannigfaltig. Denn Geschichte wiederholt sich. In Troja, in Karthago, in Rom … bis heute. So bleibt die Aeneas mit seiner weiblichen, liebenden, sinnlichen, visionären und doch ebenso machthungrigen Heldin Elyssa (auch Dido genannt) so topaktuell wie eh und je. Absolut lesenswert – für Fans der Antike und alle die wissen wollen, wie Julius Cäsar eigentlich zu seinem Namen kam.

Irene Vallejo: Elyssa, Königin von Karthago.
Aus dem Spanischen übersetzt von Kristin Lohmann und Luis Ruby.
Diogenes, Februar 2024.
320 Seiten, gebundene Ausgabe, 25,00 Euro.

Diese Rezension wurde verfasst von Diana Wieser.

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