Jan Schomburg: Die Möglichkeit eines Wunders

München, Fin de Siècle:  Kultur und Wissenschaft sind im Umbruch. Von moderner Kunst bis zur Eroberung des Luftraumes schwankt die Gesellschaft zwischen Ratio und Aberglaube. In einer sich immer schneller entwickelnden Welt sucht die vermögende Oberschicht Zuflucht im Okkultismus. Geister, Ektoplasma, schwebende Gegenstände …  dank moderner Gerätschaften kann man vieles davon nun „nachweisen“, aber genauso gut fälschen.

Mitten im Geschehen befindet sich der später titulierte „Geisterbaron“ Albert von Schrenk-Notzing, der sich zeitlebens über diesen Spitznamen geärgert hat. Schließlich will der therapeutische Hypnotiseur, Arzt und Forscher übersinnliche Phänomene rein wissenschaftlich ergründen. Ihn interessiert die Kraft des Geistes und der Seele (dank Sigmund Freud zusehends in Mode kommend!). Kann der Mensch durch bloße Willenskraft Dinge in Bewegung setzen? Ist er fähig, Visionen oder Geister zu empfangen, wenn sein „Ich“ mittels Hypnose außer Kraft gesetzt wurde?

Diese skurrile, aber auf Tatsachen beruhende Lebensgeschichte des Geisterbarons liest sich unglaublich! Durch den subtilen Humor von Autor Jan Schomburg wird das literarische Kuriositätenkabinett nochmals auf ein neues Level gehoben. Ganz nebenbei verwebt Schomburg geschichtliche Bezüge wie das Faible der Nationalsozialisten für okkulte Kräfte in den Plot.

Okkultismus außer Rand und Band
In seiner Praxis hat Albert zunächst wenig mit Okkultismus zu tun. Seine Hypnose setzt er dazu ein, „hysterische Frauen“, „psychisch Instabile“ oder Männer, „deren sexuelle Sehnsüchte sich nicht in Einklang mit den sittlichen Vorstellungen des Kaiserreichs bringen ließen“ (S.33), zu heilen. Bereits im ersten Kapitel werden die für heute mehr als befremdlichen Sittlichkeitsvorstellungen süffisant vorgeführt. Albert muss in einem Prozess als Gutachter aussagen. Eine reiche Baronin hat einen bettelarmen, polnischen Hypnosetherapeuten geheiratet – das kann nicht mit rechten Dingen zugehen! Er muss ein Hochstapler sein, der sie mittels Suggestion zu „etwas sehr Traurigem“ (aka Geschlechtsverkehr) und anschließend zur Vermählung überredet hat. Allein diese Dialoge und Anmerkungen sind rundum köstlich!

Ob Alberts Werben um die schöne Ella, die sich zu seinem Leidwesen zur Pilotin berufen fühlt, oder seine ersten Sitzungen mit von Geistern Besessenen: Die Fabulierkunst von Autor Schomburg füllt das Erzählte mit Humor und Leben. Ein Highlight sind die Sitzungen mit der bäuerlichen Italienerin Eusapia, in deren Körper Lord John King fährt, sich in einwandfreiem Englisch artikulierend. Nebenbei wird gefurzt, onaniert und auf mehreren Ebenen kopuliert. Wahrheit oder Fälschung? Albert ist von der Richtigkeit der Phänomene überzeugt, wird dabei aber mit Spott von den „seriösen Wissenschaftlern“ überzogen. Auf seinem weiteren Lebensweg begegnen ihm Voodoo und Nahtoderfahrungen aller Art – manchmal, ohne es recht zu merken.

Von der Swastika zu dominikanischen Juden
Im Hintergrund vermag Jan Schomburg aber auch ernste Untertöne einzubauen. Schließlich war der Beginn des 20. Jahrhunderts, der 1. Weltkrieg und die Machtergreifung der Nazis eine Zeit vieler ernster Begebenheiten. Vom Erfinder des Swastika-Symbols über den Hitlerputsch in München bis hin zum Faible der Nazis für okkulte Symbole, zeigt der Autor, dass jede Kraft für Gutes wie Schlechtes genutzt werden kann. Die Nazis lehnten die jüdisch-christliche Kirche ab (mit Nächstenliebe lässt sich schwerlich Lebensraumpolitik und Rassenlehre betreiben) und waren stets auf der Suche nach okkulten, altgermanischen Ritualen als neue „Ersatzreligion“ für die Massen. Dabei bringt der Autor auch relativ unbekannte, geschichtliche Kapitel zur Sprache. Zum Beispiel, dass sich viele Juden in der Dominikanischen Republik angesiedelt haben, da deren Präsident sich als einer der wenigen Staatsoberhäupter für die Aufnahme einer größeren Anzahl von Flüchtlingen ausgesprochen hat (allerdings nur, um den afrikanischen Einfluss in der Bevölkerung zu schmälern und das eigene Volk „weißer“ zu machen). Egal, wohin man auf der Welt blickt, das wahrhaftig Unerklärbare scheint nicht im Jenseits, sondern im völlig aus den Fugen geratenem Diesseits verankert zu sein.

Fazit: Die Möglichkeit eines Wunders? Dieser Roman bietet Ihnen die Sicherheit einer großartigen Unterhaltung! Zum Staunen und Schmunzeln gleichermaßen geeignet. Die besten Geschichten schreibt das Leben selbst. Umso schöner, wenn sie durch die begnadete Fabulierkunst von Jan Schomburg noch extrem aufgewertet werden.

Jan Schomburg: Die Möglichkeit eines Wunders.
dtv, März 2024.
272 Seiten, gebundene Ausgabe, 24,00 Euro.

Diese Rezension wurde verfasst von Diana Wieser.

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