Julja Linhof: Krummes Holz

Inzwischen ist Georg volljährig und verlässt das Internat, das die letzten fünf Jahre sein Zuhause war. Es war eine Zeit der Abstinenz von seinem Vater Georg, seiner Schwester Malene, der Großmutter Agnes und von Leander, dem Sohn des Hofverwalters. Georgs Ziel ist der elterliche Hof. Er trägt den Namen Krummes Holz und steht unter anderem für den nicht so ertragreichen Boden.

Schon vor Monaten hat Malene ihn gebeten, zurückzukommen, weil sie seine Hilfe braucht. Und kaum ist er angekommen, prallen Fremdheit und Vertrautes aufeinander. Der abgewirtschaftete Betrieb, die Abwesenheit des Vaters und eine demente Großmutter passen nicht zu einer Heimkehr, die ein Willkommen widerspiegeln sollte. Ohne darauf vorbereitet zu sein, spürt Georg die Narben auf seiner Seele. Sie wollen aufbrechen, während er krampfhaft versucht, sie mit Macht zusammenhalten.

Die Autorin Julja Linhof wuchs in Westfalen auf und studierte in Leipzig am Deutschen Literaturinstitut und danach Illustration in Hamburg, wo sie heute lebt und arbeitet. Ihr Debüt beginnt mit einer Buchempfehlung und einem Interview, in dem die Autorin fünf Fragen zu ihrem Roman beantwortet. Es gibt sicherlich gute Gründe, einen Roman auf diese Weise zu bewerben und zu erklären. Eine junge Leserschaft braucht vermutlich unterschiedliche Anreize, um sich auf Literatur einzulassen, die mehr im Sinn hat als reine Unterhaltung.

Das Leitthema der Autorin ist jedenfalls aktuell und alt zugleich, weil sich jede Generation an den Besonderheiten des Elternhauses abarbeiten muss.

Julja Linhof zeigt hier ganz unmissverständlich: Kein Kind sucht sich seine leiblichen Eltern aus und kein Elternteil seine leiblichen Kinder. Es kommt, wie es kommt und was die Gene anbieten. Mal funktioniert es einigermaßen, und manchmal durchwandert man ein mit Minen bestücktes Schlachtfeld. Georg hat in seiner Kindheit nichts anderes kennengelernt als Lieblosigkeit und Brutalität. Sie lagen in den Genen des Vaters, dessen Seele im Krieg verletzt wurde.

In einer Szene wird das kurze Erwachen der Großmutter Agnes aus ihrer Demenz beschrieben, als sie ihren Enkel erkennt. Ihre Augen werden starr, und in ihrem Gesicht huschen so viele Ausdrücke, als wollten die Gesichter verschiedener Menschen sichtbar werden. Und dann, ganz plötzlich, wird Georg angespuckt. So wie Agnes die verschiedenen Schichten ihres Charakters verborgen hält, so versteckt auch der Ich-Erzähler Georg seine Gefühle und Gedanken vor seinen Mitmenschen. Denn Sprachlosigkeit ist eine Charakteristik seiner Familie. Diese zu durchbrechen, ist Georgs Lebensaufgabe. Jeder Mensch braucht auf dem Weg zum Erwachsenwerden Antworten auf die Fragen: Wer bin ich, und was will ich im Leben? Dass dies kein einfaches Unterfangen ist, liegt auf der Hand.

Die Autorin hat sich klugerweise entschieden, in Andeutungen und Häppchen eine Familiengeschichte zu erzählen, die sich niemand wünscht und die sich zugleich niemand aussuchen kann.

Der intensive und äußerst gelungene Auftakt macht neugierig auf hoffentlich weitere Romane der Autorin.

Julja Linhof: Krummes Holz
Klett-Cotta Verlag, Februar 2024
272 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag, 22,00 Euro

Diese Rezension wurde verfasst von Sabine Bovenkerk-Müller.

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