Joy Williams: In der Gnade

Happy Birthday Joy Williams!

Heute feiert die US-amerikanische Schriftstellerin Joy Williams ihren 80. Geburtstag. Rechtzeitig dazu bringt die dtv Verlagsgesellschaft ihren im Original bereits 1973 erschienenen Debütroman „State of Grace“ erstmals auf Deutsch unter dem Titel „In der Gnade“ heraus. Julia Wolf hat ihn aus dem Englischen übersetzt. Im letzten Jahr wurde Joy Williams für ihre „Stories“ (ebenfalls bei dtv) in Deutschland u.a. von Thea Dorn im „Literarischen Quartett“ und in der Süddeutschen Zeitung als Entdeckung gefeiert. Da ist die Spannung auf ein weiteres Stück Literatur von Joy Williams groß. Und so viel sei verraten, die Leserinnen und Leser von „In der Gnade“ werden nicht enttäuscht.

Zwischen Gott und Wahnsinn

Kate ist von zu Hause weggegangen. Sie studiert an einem Ort in den Südstaaten der USA. Ihre Mitstudentinnen genießen das unabhängige Leben. Kate hat einen skurrilen besten Freund, Corinthian Brown, der ein paar wilde Tiere in einem Privatzoo betreut. Sie lernt Grady kennen und wird schwanger von ihm. Doch es umgibt Kate eine düstere Aura: Sie war das Lieblingskind ihres Vaters Jason, eines überzeugten Predigers, der sie mit Bibelsprüchen und Psalmen großgezogen hat. Ihre Mutter neidete ihr das gute Verhältnis zum Vater und wird darüber verrückt. Ihre Schwester kommt bei einem Unfall ums Leben. Jetzt lebt sie mit Grady in einem Wohnwagen im schwül-feuchten Wald. Kate fantasiert sich in ihre Vergangenheit, spinnt Gedanken fort und verwirft sie wieder. Bald will sie Grady von ihrem Vater erzählen. Doch was genau ist das zwischen Kate und ihrem „Daddy“? Grady wird es nicht mehr erfahren, Kate wählt ihren Weg zum inneren Frieden.

50 Jahre alt, aber modern geblieben

„In der Gnade“ von Joy Williams ist eine ruhige, düstere Geschichte einer Familie, die von einem Vater mit religiösem Eifer dominiert wird und den Folgen für ein Kind bzw. für die junge Frau, die aus dem Kind wird. Williams schafft es (wie später auch in den Stories), eine geheimnisvolle, bedrohliche Atmosphäre herzustellen. Da ist nichts Heiteres oder Beruhigendes in ihrem Text. Eine missbräuchliche Beziehung zwischen Kate und ihrem Vater hängt in der Luft oder zwischen den Zeilen, sickert in die Gedanken, aber ausgesprochen wird dies nie. Der Status der Vater-Tochter-Beziehung bleibt in der Schwebe. Die als Kind nach dem Tod ihrer Schwester und Mutter mit ihrem Prediger-Vater allein lebende Kate hat keine Chance auf eine „normale“ Entwicklung. Williams gelingt es meisterhaft, deren kindliche Gefühlswelt gegenüber dem „geliebten“ Daddy in Sprache zu fassen:

„»…Da waren Vater und ich drei Tage weg. Es war eine sehr bereichernde Erfahrung. Sie haben sich zusammengetan und einen Kuchen in Form einer Bibel, die bei den Psalmen aufgeschlagen ist, für Daddy gebacken. Das war der größte Kuchen, den ich je gesehen habe … Das war kurz vor dem Valentinstag in dem Jahr und Daddy hat mir ein großes Stück Kuchen abgeschnitten, das hat er mir vor allen anderen gegeben und gesagt: ›Für meinen Liebling, zum Valentinstag‹.«“ (S. 180)

Später ergreift Kate die Flucht vor ihrem Vater, aber sie bleibt gedanklich und emotional gefangen. Als Lesende bange ich Seite um Seite um die schwangere Hauptfigur und ihr ungeborenes Kind. Joy Williams lässt ihre Lesenden schaudern und sich fühlen wie in einem schlechten Traum, aus dem man nicht aufwachen kann. Ihre Figuren sind dabei keine Sympathieträger, sondern verkorkste Menschen, denen man dringend psychologische Hilfe wünscht.

Der Text, vor 50 Jahren geschrieben, wirkt weder überholt noch veraltet, Williams Sprache ist zeitlos modern. Joy Williams Debütroman „In der Gnade“ ist eine späte Entdeckung für die deutschen Leserinnen und Leser, aber besser spät als nie. Bitte lesen! 

Joy Williams: In der Gnade.
Aus dem Englischen von Julia Wolf.
dtv, Februar 2024.
336 Seiten, Hardcover, 24,00 Euro.

Diese Rezension wurde verfasst von Sabine Sürder.

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