Annie Ernaux ist bereits mehr als fünfzig Jahre alt und eine angesehene Autorin, als sie Mitte der 90er Jahre eine Beziehung zu einem deutlich jüngeren Mann eingeht. In der Erzählung „Der junge Mann“ beschreibt sie knapp und, wie ich finde, emotionslos die Zeit mit A. und was diese Liaison für sie bedeutete.
Von dem titelgebenden Geliebten erfahre ich außer dem Anfangsbuchstaben des Vornamens wenig. Was Annie Ernaux über ihn schreibt – er ist mittellos, er hat schlechte Manieren, welche Gesten ihr an ihm auffallen – das steht immer im Kontext von Erinnerung an ihre eigene Jugend und Herkunft und sie beschreibt damit eine jüngere Ausgabe ihrer selbst. A. ist ein Abbild der Verhältnisse, denen sie entronnen ist. Von seiner kalten und kargen Wohnung in Rouen, wo sie selbst einst studierte, kann man auf das ehemalige Krankenhaus blicken, in dem sie als junge Studentin nach einer misslungenen Abtreibung eingeliefert wurde. In der Wiederholung kann sie gelassen auf Ereignisse blicken, die sie einst mit Scham erfüllten und die ihr nun verdeutlichen, wie sehr sich ihre Welt gewandelt hat.
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