Annie Ernaux: Der junge Mann

Annie Ernaux ist bereits mehr als fünfzig Jahre alt und eine angesehene Autorin, als sie Mitte der 90er Jahre eine Beziehung zu einem deutlich jüngeren Mann eingeht. In der Erzählung „Der junge Mann“ beschreibt sie knapp und, wie ich finde, emotionslos die Zeit mit A. und was diese Liaison für sie bedeutete.

Von dem titelgebenden Geliebten erfahre ich außer dem Anfangsbuchstaben des Vornamens wenig. Was Annie Ernaux über ihn schreibt – er ist mittellos, er hat schlechte Manieren, welche Gesten ihr an ihm auffallen – das steht immer im Kontext von Erinnerung an ihre eigene Jugend und Herkunft und sie beschreibt damit eine jüngere Ausgabe ihrer selbst. A. ist ein Abbild der Verhältnisse, denen sie entronnen ist. Von seiner kalten und kargen Wohnung in Rouen, wo sie selbst einst studierte, kann man auf das ehemalige Krankenhaus blicken, in dem sie als junge Studentin nach einer misslungenen Abtreibung eingeliefert wurde. In der Wiederholung kann sie gelassen auf Ereignisse blicken, die sie einst mit Scham erfüllten und die ihr nun verdeutlichen, wie sehr sich ihre Welt gewandelt hat.

Zudem versteht sie ihr Verhältnis mit A. als einen Akt der Emanzipation. Indem sie mit einem deutlich jüngeren Mann zusammenlebt, dringt sie in eine Männerdomäne ein und provoziert damit bewusst. Während es für Männer schon immer eine Selbstverständlichkeit war, sich mit einer jugendlichen Partnerin zu schmücken, wird Gleiches bei Frauen als anstößig empfunden. Zufrieden konstatiert sie, dass sie bei den Blicken der Beobachter keine Scham empfindet, sondern fast so etwas wie Stolz. A. ist dabei auch Mittel zum Zweck.

Sex als Schreibantrieb

Letzteres gilt ebenso für eine weitere Ebene. Für Annie Ernaux ist Sex ein Antrieb zum Schreiben.

„Ich hoffte, nachdem die heftigste Erwartung vorbei wäre, die des Orgasmus, würde sich die Gewissheit einstellen, dass es nichts Lustvolleres gibt, als ein Buch zu schreiben“ (S.9) Mit dem jungen Mann kann sie in die Tage ihrer Jugend eintauchen, kann Bilder und Gefühle mit angemessener Distanz zurückrufen. In Rouen war sie ungewollt schwanger und die Abtreibung war ein einschneidendes Erlebnis, welches noch verarbeitet werden musste. Die Fertigstellung der Erzählung darüber markiert auch das Ende ihrer Beziehung.

Ich habe den Text als nüchtern und kühl empfunden. Selbst wenn Annie Ernaux über Begehren und Zweisamkeit schreibt, meine ich eine Distanz zu den Geschehnissen zu spüren. Ich habe den Eindruck, dass sie bei allem, was sie tut, gleichzeitig die Rolle eines Beobachters einnimmt und das Erlebte analysiert. Die Zeit mit A. wird nicht linear erzählt, sondern in repräsentativen Episoden, mit Hilfe derer sie einzelne Aspekte beleuchtet und bewertet. Sie beschreibt ihr Leben im Speziellen und gleichzeitig in der Abstraktion, als Spiegel für gesellschaftliche Verhältnisse, für Konventionen und Vorurteile.

Fazit: Für mich ist Annie Ernaux eine Entdeckung und mich beeindruckt ihre unverblümte Offenheit. Ich danke der Nobelstiftung freundlich für die Empfehlung.

Annie Ernaux: Der junge Mann.
Aus dem Französischen übersetzt von Sonja Finck.
Suhrkamp, Januar 2023.
40 Seiten, gebundene Ausgabe, 15,00 Euro.

Diese Rezension wurde verfasst von Jana Jordan.

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