Annabel Wahba: Chamäleon

Ein Chamäleon kann die Farbe wechseln und sich damit an seine Umgebung anpassen. Das Chamäleon in Annabel Wahbamöchte in verschiedene Kulturen eintauchen können, ohne sich ganz aufgeben zu müssen. Die Autorin stammt aus einer deutsch-ägyptischen Familie, ihre bayrische Mutter lernte einst bei einem Ausflug auf der Isar einen jungen Mann aus Kairo kennen und gründete mit ihm eine Familie. Annabel Wahba ist die jüngste der vier Kinder des Paares und sie fühlt sich beiden Kulturen zugehörig. In ihrem Buch „Chamäleon“ lässt sie den Leser an einer spannenden Spurensuche teilhaben.

Anlass für die Aufzeichnungen ist die Krebs-Diagnose ihres Bruders André. Drei Jahre lang führt sie Gespräche mit Familienangehörigen, sichtet Dokumente und trägt eigene Erinnerungen zusammen. Am Sterbebett ihres Bruders erzählt sie ihm und uns die Geschichte ihrer Familie. Die beginnt mütterlicherseits zunächst 1941 in München mit dem Tod des Großvaters, mit einer glücklichen Kindheit auf dem Land, später mit heimlichem Aufbegehren gegen das mütterliche Regime und Erwachsenwerden in New York.

Die ersten Lebensjahre des Vaters in einer Kleinstadt zwischen Kairo und Alexandria zeigen manche Parallele zu denen der Mutter in Deutschland, die Religion und der Zusammenhalt in der Familie sind der Kitt, der Menschen zusammenhält. Das gilt später auch für das junge Paar, welches anfangs in Kairo und später in München sein Auskommen sucht.

Das Buch hat mich in zweierlei Hinsicht angesprochen. Zum einen gefällt mir der achtsame Umgang mit dem sterbenden Bruder, die Zeit und die Zuwendung, die ihm von Geschwistern und Eltern gegeben wird, bis zum letzten Atemzug. Annabel Wahba spricht ihren Bruder an, bezieht ihn in ihre Erzählungen ein und lässt ihn so zum Mittelpunkt werden.

Ringen um Klarheit

Zum anderen beeindruckt mich ihr Ringen um Klarheit, ihre Gedanken über Integrationsanforderungen und -leistung. Die Beschäftigung mit der Familiengeschichte weckt Erinnerungen an die Kindheit in Erding. Ich lese von dem Bemühen sich einzubringen – in der Nachbarschaft, in der Kirche oder im Verein, und gleichzeitig von Momenten der Ausgrenzung, offen oder versteckt und immer verletzend. Der Kampf gegen die AbschiebungEnde der 60er Jahre wird durch einen dicken Ordner dokumentiert.

Unabhängig davon beschreibt Annabel Wahba, die selbst in Deutschland geboren und aufgewachsen ist, wie sie beim Stöbern in alten Dokumenten und bei den Gesprächen mit Eltern und Geschwistern ihre ägyptische Seite entdeckt. Der rote Faden im Buch ist in jedem Fall die Suche nach dem, was uns ausmacht, bzw. die Frage, welchen Einfluss Herkunft und Kultur auf unser Wesen oder unsere Entscheidungenhaben. Annabel Wahba maßt sich nicht an, diese Frage allgemeingültig zu beantworten. Sie zeigt ihren Weg und öffnet damit für sich und auch für andere neue Türen.

Annabel Wahba: Chamäleon.
Eichborn, September 2022.
285 Seiten, Hardcover, 23.00 Euro.

Diese Rezension wurde verfasst von Jana Jordan.

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