Nikki Erlick: Die Vorhersage

In der griechischen und römischen Mythologie haben die Schicksalsgöttinnen für jeden Menschen einen Lebensfaden gesponnen. Und wenn einer durchgeschnitten wurde, war das Leben für den Besitzer vorbei. Auch in Nikki Erlicks Debütroman spielen diese Fäden eine Rolle, denn sie werden für alle Erwachsenen an einem bestimmten Tag sichtbar. Weltweit erhält danach jeder am 22. Geburtstag sein eigenes Kästchen mit dem Hinweis, im Inneren befinde sich das Maß seines Lebens. Woher diese Kästchen kommen und wie das Kunststück vollbracht wurde, jedes namentlich richtig zuzustellen, bleibt ungeklärt. Schon bald kann sich jeder sein Lebensalter ausrechnen.

Für Jack Hunter ist der eigene lange Faden kein Trost. Er wird wie alle jungen Männer in seiner Familie in eine militärische Ausbildung gezwungen. Was nützt ihm Ansehen und Reichtum, wenn die freie Entscheidung fehlt, und er nicht herausfinden darf, wer er eigentlich ist?

Anthony Rollins, der Ehemann seiner Tante, nimmt sich ebenfalls das Recht heraus, über Jack zu bestimmen. Denn er braucht für seinen Wahlkampf als angehender Präsident seinen Neffen in Uniform auf dem Podium, damit er auf mehr Wähler und deren Spenden auf seine Seite ziehen kann. Auch Anthony und seine Frau haben einen langen Faden und glauben, diesen verdient zu haben. Dass nach aktuellem Wissenstand die Länge des Lebensfadens ein fest verankertes Schicksal bedeutet, hilft Anthony auch in anderer Hinsicht, denn sein ärgster Kontrahent besitzt einen kurzen Faden. Schnell lenkt er die öffentliche Diskussion auf die Frage, wie viele Rechte ein Mensch mit einem kurzen Leben haben darf. Die neu gewonnene Interpretationsfreiheit beruhigt darüber hinaus auch sein Gewissen, hatte er doch in seiner Studienzeit geglaubt, am Tod eines Studenten schuldig gewesen zu sein.

Die amerikanische Reisejournalistin Nikki Erlick hat bisher viele Artikel geschrieben. Mit ihrem Roman hat sie offensichtlich bei vielen Menschen einen Nerv getroffen, weil sie Menschlichkeit und Ausgrenzung aus einer neuen Perspektive betrachtet. Ihre Charaktere sind so verschieden wie ihre Talente und Träume. Sollen sie auf ihr Glück verzichten, nur weil ihnen die Kürze ihres Lebens bekannt ist? Kann man ein kurzes oder langes Leben tatsächlich als Verdienst betrachten? Die Autorin erzählt aus verschiedenen Perspektiven, was das Wissen oder das Nicht-Wissen-Wollen mit ihren Charakteren macht. Dies lässt niemanden bei der Lektüre unberührt und liefert zugleich philosophische Ansätze, die eigene Existenz neu zu betrachten.

Nikki Erlick: Die Vorhersage.
Aus dem Amerikanischen übersetzt von Sabine Thiele.
Heyne, Dezember 2022.
480 Seiten, Hardcover mit Schutzumschlag, 22,00 Euro.

Diese Rezension wurde verfasst von Sabine Bovenkerk-Müller.

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