Goliarda Sapienza: Die Kunst der Freude

Der Blick der jungen Frau auf dem Buchumschlag ist schwer zu deuten. Ich sehe Entschlossenheit ebenso wie Nachdenklichkeit, wohl auch eine Spur von Resignation. Das Foto zeigt die italienische Autorin Goliarda Sapienza, deren Bücher zu Unrecht in Vergessenheit geraten waren. Sie stammt aus Catania auf Sizilien und war als Theaterschauspielerin und Drehbuchautorin berühmt, bevor sie sich dem Schreiben widmete. Ihr Hauptwerk L’arte della gioia – Die Kunst der Freude – jedoch blieb zu ihren Lebzeiten unveröffentlicht. Die Lebensgeschichte von Modesta, einer Frau, die selbstbestimmt handelt, Männer und Frauen liebt und die Suche nach persönlichem Glück und Selbsterkenntnis über alles stellt, fand keinen Verleger. Erst der Umweg über Deutschland und Frankreich brachte dem Buch die verdiente Anerkennung.

Goliarda Sapienza hat in ihrem Roman vielmals eigenes Erleben verarbeitet. Auch Modesta wächst in Sizilien auf und verbringt einen großen Teil ihres Lebens in bzw. in der Nähe von Catania. Goliardas Eltern waren linke Intellektuelle und ihre Mutter gehörte zu den ersten Frauenrechtlerinnen Italiens. Das harmonische Zusammenleben der Patchwork-Großfamilie mit Modesta als Familienoberhaupt fand sein Vorbild sicher auch in Goliarda Sapienzas Kindheit inmitten ihrer Stiefgeschwister.

Modesta findet in den Aufzeichnungen und der Bibliothek des Sozialisten Jacopu viele Ideen, die ihr Weltbild formen. Beide Frauen haben einige Zeit im Gefängnis verbracht, wenn auch aus ganz unterschiedlichen Gründen. Prägend war in jedem Fall der Zusammenhalt unter den inhaftierten Frauen. Während die Autorin ihre Wertsachen verkaufte, um ihren Roman zu verfassen, hat Modesta Land, Häuser und Kunstgegenstände veräußert, um das Leben der Familie abzusichern. Nicht zuletzt teilen beide auch die Leidenschaft für’s Schreiben.

Der Roman erzählt die Lebensgeschichte von Modesta und lässt sie in vier Kapiteln jeweils erweiterte Stufen der Selbstbestimmung erreichen. Schon als junges Mädchen ist sie gezwungen, sich um sich selbst zu kümmern. Sie stammt aus ärmlichen Verhältnissen, ihre Mutter sprach nicht mit ihr, entweder schrie sie oder sie schwieg. Nach dem Tod von Mutter und Schwester, an dem sie nicht unschuldig war, fand sie dank der Fürsprache einer Nonne Aufnahme in einem Kloster. Dort lernte sie lesen, Klavier spielen und sticken. Vor allem aber lernte sie, sich und ihre Gefühle zu kontrollieren, sich zu erforschen und andere zu manipulieren. So erreicht sie wirtschaftliche Selbstständigkeit und Zugang zu Bildung. Im weiteren Verlauf wird sie immer wieder gezwungen sein, ihre Vorstellungen von Glück und Zufriedenheit an wechselnde Gegebenheiten anzupassen, an gesellschaftliche Verhältnisse ebenso wie an die Anforderungen ihrer Mitmenschen, und dabei sich selbst treu bleiben.

Die Autorin wagt ein Gedankenexperiment: Wie kann es gelingen, dass aus einem einfachen und ungebildeten Mädchen, aufgewachsen in ärmlichen Verhältnissen, eine kluge selbstbestimmte Frau wird. Wie wird aus einem Mädchen, dass zu seinem Vorteil auch den Tod von Menschen in Kauf nimmt, eine aufmerksame Mutter und großzügige Hausherrin. Neben natürlicher Intelligenz und einigen glücklichen Zufällen ist Modesta in allem Phasen ihres Lebens bestrebt zu lernen. Bildung ist der Schlüssel zur Persönlichkeitsausprägung. Das manifestiert sich auch in der Sprache. Mit einfachen Sätzen erzählt die Protagonistin von Kindheit und Jugend. Neugier und Zielstrebigkeit lassen sie in Zusammenhänge eindringen, die zu erklären ihr Sprachvermögen schärft und bewirken gleichzeitig, dass Modesta auch gesellschaftliche Prozesse zu beurteilen lernt und sich einbringt – im Kleinen im direkten Umfeld ebenso wie im Großen, etwa im Widerstand gegen den Faschismus in Italien.

Somit hat Goliarda Sapienza in „Die Kunst der Freude“ nicht nur die Geschichte einer beeindruckenden Frau erzählt, sondern auch Einblicke in die Geschichte ihres Heimatlandes vermittelt.

Der Aufbau-Verlag hat gut daran getan, dieser klugen Stimme aus Italien eine Bühne zu geben. Ich freue mich auf weitere Übersetzungen von Werken Goliarda Sapienzas.

Goliarda Sapienza: Die Kunst der Freude.
Aus dem Italienischen übersetzt von Esther Hansen & Constanze Neumann.
Aufbau Verlag, April 2022.
735 Seiten, Gebundene Ausgabe, 28,00 Euro.

Diese Rezension wurde verfasst von Jana Jordan.

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