Robert Menasse: Die Erweiterung

Bei meinem letzten Besuch in Wien habe ich eine Sehenswürdigkeit verpasst. Dort gibt es im Kunsthistorischen Museum einen besonderesAusstellungsstück zu bestaunen – den Helm des Skanderbeg. Das auffälligste Element an diesem aus Weißgold gefertigten und mit einem vergoldeten Kupferband und goldenen Rosetten verzierten Helm ist ein auf dem Scheitel aufsitzender gehörnter Ziegenkopf aus vergoldeter Bronze.Diese Figur gilt als Herrschaftssymbol und der Träger des Helmes, Gjergj Kastrioti Skanderbeg, war ein albanischer Fürst, dem es im 15 Jhdt. gelang, die albanischen Fürstentümer gegen die Osmanen zu vereinen. Unter seiner Führung konnten in den nächsten 25 Jahren bzw. bis zum Tode des Fürsten, die Heere des Osmanischen Reiches immer wieder zurückgedrängt werden. Skanderbeg ist der Nationalheld der Albaner.

Sein Helm ist der rote Faden in Robert Menasses Buch „ Die Erweiterung“. Er symbolisiert gleichermaßen Nationalstolz und die Kraft vereinigter Völker – die beiden Pole, zwischen denen nicht nur Albanien, sondern auch die EU ihr fragiles Gleichgewicht immer wieder finden muss. Womit wir uns quasi zum Thema des Romans vorgearbeitet haben: Albanien möchte, wie auch andere Balkanstaaten, Mitglied der Europäischen Union werden und trifft mit diesem Wunsch auf Befürworter, aber auch auf viel Ablehnung. Ökonomische Interessen prallen auf nationalistisches Gedankengut, Einflusssphären werden gegeneinander ausgespielt. Am Vorabend der Balkankonferenz in Poznan versuchen verschiedene Parteien, sich zu profilieren. Der Helm sorgt dabei für einige Verwirrung.

Einzelschicksale

Wie auch schon in „Die Hauptstadt“ erzählt Robert Menasse seine Geschichte eingebettet  in Einzelschicksale aus der Perspektive verschiedener Figuren. Im Team des albanischen Ministerpräsidentensorgt der Pressesprecher Ismail Lani für die angemessene Verbreitung von Informationen. Fate Vasa, der Dichter, ist Berater des Regierungschefs und an den Geschehnissen um den Helm beteiligt. Beider Kindheit und Jugend stand unter dem Einfluss der Veränderungen nach dem Tod von Enver Hoxha und den Auswirkungen des Balkankrieges. Der Pole Adam Prawdower, Beamter in der EU-Kommission in der Generaldirektion NEAR – Nachbarschaft und Erweiterung, wird zerfressen von Hass auf seinen früheren Blutsbruder Mateusz, mit dem er gemeinsam in der Solidarnosc gekämpft hatte und der nun als polnischer Ministerpräsident mit nationalistischen und judenfeindlichen Parolen nicht nur die eigenen Ideale sondern auch die der EU verrät.Sein Kollege Karl Auer, Österreicher, lernt beim halbjährlichen Meeting in Tirana die albanische Juristin Baja Muniq kennen. Sie zeigt ihm Albanien mit seinen Traditionen und seinen Widersprüchen. Auers Cousin Franz Starek ist Ermittler im Dezernat für Kunstdiebstahl in Wien und muss sich beruflich mit dem Helm des Skanderbeg beschäftigen. Vor allem durch ihn bekommt der Leser historisches Hintergrundwissen.

Wechselnde Perspektiven

Die wechselnden Perspektiven ergeben ein vielschichtiges Bild von Albanien und ermöglichen zudem einen Einblick in die Arbeitsweise der Europäischen Kommission. Robert Manesse erzählt genau und mit feinem Humor und sorgt damit für ein unterhaltsames Lesevergnügen. Er gibt seinen Figuren Raum sich zu entwickeln. Der Plot ist fein gesponnen, die Ereignisse greifen schlüssig ineinander bis hin zum symbolträchtigen Finale.

„Die Erweiterung“ ist eine Bestandsaufnahme über den Zustand der Europäischen  Union und sie ist ein Plädoyer für ein Europa, in dem nationale Traditionen und gemeinsame Werte ausgewogen nebeneinander Platz finden.Von mir gibt es das Prädikat „Unbedingt lesenswert“.Bei meinem nächsten Besuch in Wien werde ich der Originalkopie von Skanderbegs Helm einen Besuch abstatten.

Robert Menasse: Die Erweiterung.
Suhrkamp, Oktober 2022.
653 Seiten, gebundene Ausgabe, 28,00 Euro.

Diese Rezension wurde verfasst von Jana Jordan.

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