Leise brodelnder Psychothriller, der unter die Haut kriecht
„Und wenn du lange in einen Abgrund blickst, blickt der Abgrund auch in dich hinein.“ Friedrich Nietzsche (S. 271)
Nachdem mich schon „Der Ausflug“ mit seiner eiskalten Atmosphäre und psychologischen Tiefe begeistert hat, war ich gespannt, ob „Die Insel“ dieses Niveau halten kann. Und ja – sie kann!
Statt eisiger Gletschertäler nun Gotlands stille Strände. Statt Naturgewalten: psychologische Abgründe. Und wieder dieses Gefühl: Etwas stimmt hier nicht.
Nur die Bedrohung hat sich verlagert – von außen nach innen. Sie liegt nicht in der Landschaft, sondern im Schweigen, im Zögern, im Nichtgesagten. Und genau darin liegt Kvenslers Stärke: Er schreibt Thriller, die nicht laut schreien, sondern sich leise in den Kopf schleichen.
Wenn im Sarek der Berg stumm und unerschütterlich war – „egal, ob wir zu seinen Füßen überlebten oder starben“ – dann ist es auf Gotland die Vergangenheit, die mit derselben erbarmungslosen Wucht über die Charaktere hinwegprescht.
Daher ist „Die Insel“ kein temporeicher Spannungsthriller im klassischen Sinn – eher ein leise brodelnder Psychothriller, der unter die Haut kriecht. Was harmlos beginnt – ein Sohn besucht mit seiner Freundin den entfremdeten, sterbenskranken Vater auf Gotland – entwickelt sich zum Psychoduell über Macht, Manipulation und verdrängte Traumata.
Ulf Kvenslers Sprache trägt, wo der Plot nicht hetzt – atmosphärisch dicht, fein beobachtet, zwischen brüchiger Vater-Sohn-Dynamik und der unheilvollen Verschiebung familiärer Wahrheiten. Wem wir trauen können, bleibt unklar: dem Vater nicht, der Freundin nicht – nicht einmal Isak selbst. Diese gezielt gestreute Unsicherheit legt sich wie ein psychologischer Nebel über die Handlung: undurchsichtig, bedrohlich, zermürbend.
Kvensler bedient sich eines Stilmittels, das man eher aus Theater oder modernen Serien kennt: dem berühmten Bruch der vierten Wand. Plötzlich spricht Isak direkt zu uns – „Ich weiß schon, was ihr denkt. Total albern. Aber wenn ihr ganz ehrlich seid, habt ihr so etwas auch schon oft gedacht.“ (S. 104) – und zieht uns damit unmittelbar in seinen innersten Gedankenstrom.
Die Distanz zwischen Figur und Leserschaft löst sich auf. Statt Zuschauer zu bleiben, werden wir Teil seiner inneren Zerrissenheit – Mitwisser, vielleicht sogar Komplizen. Diese direkte Leseransprache schafft eine irritierende Intimität und verstärkt das, was Kvenslers Erzählweise so besonders macht: ihre beunruhigende Nähe.
Tiefenpsychologie trifft Thrillerstruktur
Kvensler seziert seine Figuren mit eisklarer Präzision. Es geht um Kindheitstraumata, Loyalitätskonflikte und emotionale Erpressung – und all das wird nicht plakatiert, sondern schmerzhaft leise erzählt. Die Einfühlung in das Innere einer traumatisierten Hauptfigur ist so präzise, dass sie beinah körperlich spürbar wird. Genau diese Nähe macht „Die Insel“ so intensiv – und so unbequem.
„Die Insel“ erzählt nicht einfach eine Geschichte, sie zwingt uns, hinzusehen: auf Elternbindung, emotionale Gewalt, unterschwellige Schuldverteilungen. Die psychologische Tiefe liegt nicht im lauten Drama, sondern in den Zwischentönen. In den Fragen, die Kvensler bewusst offenlässt: Wer kontrolliert hier wen? Was ist echte Nähe – und was nur Manipulation?
Fazit: Intensiv, verstörend, brillant erzählt
„Die Insel“ ist ein Thriller für alle, die psychologische Raffinesse mehr schätzen als billige Schockmomente. Ein psychologisches Experiment mit literarischer Tiefe, das die Mechanismen familiärer Macht, Manipulation und emotionaler Abhängigkeit aufblättert.
Kvensler schreibt elegant, kontrolliert – und gerade deshalb so verstörend.
Wer menschliche Abgründe lieber zwischen den Zeilen sucht als im Blut auf dem Boden, findet hier ein kleines Meisterwerk.
Kühl. Klug. Erschreckend nah.
Ulf Kvensler: Die Insel
Aus dem Schwedischen übersetzt von Sabine Thiele.
Penguin, Juni 2025.
400 Seiten, Paperback, 17,00 Euro.
Diese Rezension wurde verfasst von Olivia Grove.