Sarah Crossan: Toffee

Dieser Roman zieht einem den Boden unter den Füßen weg, nur um einem dann sofort eine Hand zu reichen. Er ist so intensiv und gleichzeitig schrecklich und so wunderschön, dass man lachen und weinen möchte, gleichzeitig und parallel. Er ist furchtbar traurig und gleichzeitig voller Hoffnung.

Wenn man dieses Buch aufschlägt, irritiert es, denn zuerst weckt es den Anschein, als handele es sich um einen Gedichtband. Die Zeilen sind kurz, brechen mitten im Satz um, manche Kapitel bestehen nur aus ein oder zwei Sätzen. Doch wenn man sich einliest, fallen lässt in diese Erzählung, dann packt sie, hält einen fest und lässt auch nicht los, wenn die letzte Seite umgeblättert ist.

Die junge Allison, 15 und mutterlos, läuft von zu Hause weg. Sie hält es nicht mehr aus, ihr Vater ist ein Schläger, der wenig braucht, um voller Wut über sie herzufallen. Nachdem die bisherige Freundin des Vaters, Kelly-Ann, mit der sich Allison ganz wunderbar verstand und die ihr Halt gab, sie und den Vater verlassen hat, hält es das Mädchen nicht mehr aus und geht. Auf der Suche nach Kelly-Ann landet sie im Haus von Marla, einer dementen alten Frau, die Allison für ihre lange verschwundene Freundin Toffee hält.

Nach und nach übernimmt Allison, die sich immer mehr selbst als Toffee identifiziert, Verantwortung für Marla, fast, ohne sich dessen bewusst zu werden. Und ohne, dass es andere Menschen, wie Marlas Pflegerin oder ihr Sohn, mitbekommen. Allison trifft andere Jugendliche aus ganz anderen Kreisen als dem, aus dem sie stammt. Sie blickt von außen auf deren Leben ebenso wie auf das von Marla, der sie langsam immer näher kommt. Ganz vorsichtig und behutsam entwickelt sich eine Beziehung zwischen den beiden so unterschiedlichen Menschen, gewinnt das Mädchen Vertrauen zu der alten Frau, öffnet sich und kann dann auch vor sich selbst zugeben und erkennen, wie ihr Vater ist. Nach dessen Liebe sie sich so verzweifelt sehnt.

Autorin macht Gefühle erlebbar

Wenn man diese Handlung mit so dürren Worten zusammenfasst, gelingt es nicht, die Stimmung des Romans zu vermitteln. Ohne plakative Bilder, ohne Dramatik oder Klischees, schafft es die mehrfach ausgezeichnete Autorin, die Gefühle des Mädchens, die Zerrissenheit ihrer Seele, ihre körperlichen und mentalen Leiden zu beschreiben, greif- und fühlbar zu machen.

Der See ist es egal, ob ich in Seide gekleidet singe oder in schmutzigen Lumpen schluchze. … Die See hört nur auf ihre eigene Stimme, sie gibt nichts auf den Lärm von Leuten, die ihr erklären, wie sie sich zu benehmen hat. Wenn ich doch bloß wie die See sein könnte.“ (S. 302).

Man kann dieses Buch nicht lesen, ohne Tränen in den Augen, ohne ein Lächeln im Gesicht. Denn stets funkelt zwischen den Zeilen immer ein winziges Licht der Hoffnung, glaubt man fest an einen guten Ausgang dieser fesselnden, traurigen Geschichte. Die berührt, ohne je rührselig zu sein, die erschüttert und sehr lange nachwirkt.

Ich hoffe auf noch viele gleichartige Romane von Sarah Crossan.

Sarah Crossan: Toffee.
Aus dem Englischen von Beate Schäfer.
Hanser, Januar 2023.
352 Seiten,  Klappbroschur, 19,00 Euro.

Diese Rezension wurde verfasst von Renate Müller.

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