Ashley Audrain: Das Geflüster

Die kanadische Autorin Ashley Audrain (Jahrgang 1982) schrieb in ihrem 2021 auf Deutsch erschienen Debütroman „Der Verdacht“ über eine Mutter, die ihre neugeborene Tochter ablehnt. Nun veröffentlichte der Penguin-Verlag am 24. April 2024 ihren zweiten Roman „Das Geflüster“. Aus dem Englischen übersetzt wurde er von Lotta Rüegger und Holger Wolandt.

Zu diesem Roman haben unsere Rezensenten Sabine Sürder und Olivia Grove ganz unterschiedliche Meinungen. Wir veröffentlichen hier beide. Teilen Sie uns gerne Ihre Meinung in den Kommentaren unten mit.

Sabine Sürders Besprechung fällt so aus:

Gossip im Großstadt-Viertel

Im Buch finden wir vier Frauen aus einem früher von Portugiesen bevorzugtem Viertel einer US-amerikanischen Großstadt. Whitney, Blair, Rebecca und Mara leben mit ihren Ehemännern in kleineren oder größeren Häusern mit oder ohne Kinder.

Im Mittelpunkt der Geschichte steht Whitney Loverly, eine erfolgreiche Geschäftsfrau mit ihrem Ehemann Jacob und den Zwillingen Thea und Sebastian sowie dem älteren Bruder Xavier. Ihnen gehört das teuerste Haus in der Harlow Street. Bei einem Gartenfest werden die eingeladenen Gäste Zeugen, wie Whitney ihren Sohn Xavier anbrüllt und beschimpft. Einige Monate später wird Xavier mit einem schweren Schädel-Hirn-Trauma in die Klinik eingeliefert, in der Whitneys Nachbarin Rebecca als Ärztin arbeitet. Rebecca ist mit dem Lehrer Ben verheiratet. Sie versuchen ein Kind zu bekommen, nach vier Fehlgeburten ist Rebecca wieder schwanger.

Blair Parks ist Hausfrau und Mutter der siebenjährigen Chloe, der besten Freundin von Xavier. Sie unterstellt Aiden, ihrem Ehemann, Untreue und schnüffelt im Haus der Loverlys herum. Sie beneidet Whitney und will unbedingt ihre Freundin sein.

Mara Alvaro, zweiundachtzig Jahre alt und Nachfahrin portugiesischer Einwanderer, lebt mit ihrem Mann Albert schon seit Jahrzehnten im Viertel und beobachtet still die Veränderungen ringsherum.

„Das Geflüster“ in der Nachbarschaft wird nach Xaviers Unfall lauter. Geheimnisse und Lügen drohen, ans Tageslicht zu geraten.

Klatschroman oder nicht? Das ist die Frage

Ashley Audrain beschreibt in „Das Geflüster“ moderne Frauen, die in ihrem Leben zwischen Arbeit und Familie viel Unzufriedenheit, Langeweile und Stress erfahren. Daraus macht sie eine spannende Geschichte um den „Unfall“ eines Kindes. War es denn ein Unfall oder eher ein Selbstmordversuch, vielleicht wurde er gar aus dem Fenster geschubst? Anlass für Gerüchte, Geschwätz und Tratsch bietet der Vorfall allemal. Daneben breitet Audrain die großen und kleinen Geheimnisse der Frauen und ihrer Männer aus. Jede der Frauen erlebt dramatische Lebenssituationen. Und jede ist zutiefst mit sich selbst beschäftigt. Das ist gut geschrieben, aber mich als Leserin packt die Geschichte nicht. Dazu sind mir die Charaktere zu holzschnittartig und voller Klischees wie aus einer Seifenoper.

So ist die Hauptfigur Whitney die „Rabenmutter“, die die Arbeit dem Leben mit ihren drei Kindern vorzieht, oder Blair die „gute Freundin“, die aber voller Neid und Missgunst steckt. Die Ärztin Rebecca wird zur hemmungslosen Kinderwunschgesteuerten. Welche Bilder moderner Frauen in der westlichen Gesellschaft zeichnet Ashley Audrain da eigentlich? Ach ja, und die Männer spielen Null-Acht-Fünfzehn-Statistenrollen. Einzig die alte Mara wird von Audrain mit einer Lebensgeschichte ausgestattet, die wirklich berührt.

Nach ein paar Drehungen und Wendungen in der Geschichte platzt die Blase von einer netten Nachbarschaft und es beschleicht mich das fade Gefühl, mich auf einen Klatschroman eingelassen zu haben. „Das Geflüster“ von Ashley Audrain bekommt von mir heute leider keine Leseempfehlung (ein etwas abgewandeltes Zitat von GNTM-Chefin Heidi Klum).

Olivia Grove meint dazu:

Brillant!

„Aber wer ist sie ohne ihr jetziges Leben? Wenn sie nicht diese Mutter und diese Ehefrau ist? Wer ist sie dann?“ (S. 277)

Ashley Audrain schreibt brillant! Die Geschichte ist tiefschürfend, vielschichtig, eindringlich, beklemmend, traurig und vor allem verdammt stark konzipiert und erzählt!

Audrain versucht nicht krampfhaft, irgendwelche Wahrheiten über Familienleben, Ehe, Freundschaft, Frausein, Mutterschaft oder die Gesellschaft aufzuzwingen. Indem sie Charaktere mit Tiefenschärfe erschafft, bringt sie eine komplexere Realität zum Vorschein, die die Bedeutung von Neid, Sehnsucht, Aufopferung, nackter Intimität und emotionalen Bindungen herauskristallisiert.

„Sie hasst die Alltäglichkeit. Sie hasst es, unbeschwert, fröhlich und überrascht zu klingen, wenn sie das nicht ist. Sie hasst es, ein Interesse an Dingen zu heucheln, die nicht real sind.“ (S. 115)

Aber ‚‚Das Geflüster‘‘ ist mehr als ein charakterstarkes psychologisches Drama. Es ist vor allem eine scharfe und differenzierte Sozialanalyse.

„Ihr Ehrgeiz sichert den Lebensstandard ihrer Familie und ermöglicht es Jacob, vier Tage lang auf einer internationalen Kunstmesse herumzuschlendern, ohne etwas anderes als frische Inspiration mit nach Hause zu bringen.“ (S. 101)

Von der ersten Seite an hat die Autorin meine Gedanken unaufhörlich um die Schicksale der Figuren kreisen lassen und machte mich zu einer wahren Lesekomplizin.

Ich konnte einfach nicht anders, als jeden Twist, jede überraschende Enthüllung mit einer Mischung aus Erstaunen und Betroffenheit aufzusaugen.

„Sie will Ruhe haben und Zeit zum Nachdenken. Sie wünscht sich müde Kinder in Schlafanzügen, aber es vergehen nur Sekunden, da sind sie schon überall. Hände auf ihrem Bein und Knetgummi in ihrem Gesicht.“ (S. 182)

Dieses außergewöhnliche Werk verdient einen donnernden Applaus. Ich empfehle es wärmstens allen, die auf der Suche nach einem tiefgründigen, dramatischen und emotionsgeladenen Leseerlebnis sind.

Ich kann es kaum erwarten, was die Autorin als Nächstes präsentiert!

Für Frauen, die selbst von dem im Buch angesprochenen „Tabuthema“ betroffen sind oder für sensible Leserinnen hätte ich mir eine Triggerwarnung gewünscht.

Ashley Audrain: Das Geflüster. Niemand hat es gesehen. Doch alle haben etwas gehört.
Aus dem Englischen von Lotta Rüegger und Holger Wolandt.
Penguin Verlag, 24. April 2024.
352 Seiten, Hardcover, 22,00 Euro.

Diese Rezension wurde verfasst von Sabine Sürder und Olivia Grove.

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