Ein Blick auf Wasser, auf einen Baum gleich vor dem Fenster, andere weiter entfernt, ein blühender Busch – auf dem Schreibtisch vor dem großen Fenster, durch das dieser Blick geht, kleinere Pflanzen, eine Tasse Kaffee und ein paar Bücher. Dieses Aquarell ist das Cover zu Virginia Evans‘ Debüt „Die Briefeschreiberin“. Man kann sich gut vorstellen, an diesem Schreibtisch zu sitzen und, wie Sybil, hier Stunden damit zu verbringen, Briefe zu schreiben. Von Hand und mit einem edlen Füller auf ganz besonderem Papier. Regelmäßig macht sie das. Mehrmals in der Woche und gerne auch mal zwischendurch, wenn ihr grade was auf der Seele liegt und sie nicht warten kann, es loszuwerden.
Die Adressaten sind ganz unterschiedliche Menschen, viele von ihnen kennt sie gut, ist ihnen innig verbunden, manche zählen zu ihrer beruflichen Vergangenheit als Juristin und persönliche Referentin eines renommierten Richters, manchmal schreibt sie aber auch einfach mal an eine Autorin oder einen Autor, um sich zu deren/ dessen neuestem Werk zu äußern. Egal ob positiv oder negativ, ihre Kritik ist immer wohl begründet und sachlich, nie persönlich verletzend. Das liegt Sybil fern. Das Lesen ist eine weitere ihrer Leidenschaften, nicht selten endet ein Brief mit „Ich lese übrigens grade …. Was liest du?“. Genau wie das Gärtnern. Ihr Garten wird allgemein als wunderschön und sehr gepflegt bezeichnet.
Nicht nur von ihrem Nachbarn Theodore, mit dem sie zwar keine Briefe wechselt, doch aber die ein oder andere Nachricht und der ihr im späteren Verlauf zu einem engen Freund wird. Alles, was wir über Sybil erfahren, lesen wir in ihren Briefen oder den Antworten darauf. Besonders eng ist der Austausch mit ihrer Schwägerin Rosalie, die ihr schon lange bevor sie ihre Schwägerin wurde, eine Freundin war und die Sybil seit Kindertagen kennt. Über Rosalie bleibt Sybil denn auch informiert über das Schicksal ihres geschiedenen Mannes, der nach der Trennung zurückgegangen ist nach Belgien, woher seine Familie ursprünglich stammt.
Von Rosalie erfährt sie auch von den Problemen ihrer Tochter Fiona, zu der das Verhältnis nicht das beste ist und warum Fiona sich eben ihrer Tante und nicht ihrer Mutter anvertraut. Gut, dass es diese Briefe gibt, denn so kann Sybil das Gespräch mit Fiona suchen und einiges klären, was in der Vergangenheit schiefgelaufen ist. Auch mit ihrem Bruder Felix in Frankreich hält Sybil brieflich engen Kontakt. Sie sind zwar „nur“ Adoptivgeschwister, aber es verbindet sie doch ein ganzes Leben. Ein Leben, mit dem Sybil eigentlich zufrieden ist, bis ihre Kinder ihr ein Set schenken, mit dem man seine Abstammung herausfinden lassen kann – unmöglich! Das ärgert Sybil eher, als dass es sie freut. Dennoch lässt sie sich darauf ein und lernt „im Spätherbst ihres Lebens“, sie selbst vergleicht das Leben gerne mit den Jahreszeiten, eine – ihre – Familie kennen, von der sie nie eine Ahnung hatte. Der Spätherbst des Lebens ist es auch, der Sybil mehr denn je dazu veranlasst, ihr Leben in den Briefen noch einmal Revue passieren zu lassen. Mit allen Höhen und Tiefen, mit der grausamen Erfahrung, ein Kind verloren zu haben und eine Ehe an dieser Erfahrung und daran, wie sie damit umgegangen ist, scheitern zu sehen. Sybil ist an einem unheilbaren Augenleiden erkrankt. Sie wird in absehbarer Zeit erblinden und dann nicht mehr in der Lage sein, Briefe zu schreiben oder ein Buch zu lesen. Eine Erkenntnis, mit der sie zwar hadert, an der sie aber nicht verzweifelt.
Wir lernen Sybil und ihre Familie, ihre Freunde, aber auch den ein oder anderen Widersacher in diesen Briefwechseln kennen, erleben, wie sie sich an Erinnerungen freuen kann oder auch sich nochmal aufregen, wie sie zum Nachdenken gezwungen wird, als man ihr vorwirft, mit einer juristischen Entscheidung, an der sie vor Jahren beteiligt war, eine Familie zerstört zu haben und wie sie damit umgeht. Manchmal vielleicht zu verständnisvoll, zu sehr Gutmensch, aber immer ehrlich zu sich und anderen. Manchmal schonungslos offen bis hin zu verletzend. Stur, intelligent und im Grunde eine warmherzige, starke Frau, die im Leben schon manche Herausforderung gemeistert hat.
Unkonventionell, zunächst vielleicht ein bisschen gewöhnungsbedürftig, aber ebenso feinfühlig und intelligent, manchmal melancholisch, oft berührend. Glaubwürdig erzählt.
Virginia Evans: Die Briefeschreiberin
Aus dem Englischen von Regina Rawlinson
Goldmann, August 2025
384 Seiten, Hardcover, 24,00 Euro
Diese Rezension wurde verfasst von Sabine Ertz.
