„Nachtwald“ – Thriller-Highlight oder klischeebeladener Flop?
In unserer neuen Doppel-Rezension nehmen wir das Buch aus verschiedenen Lese-Blickwinkeln unter die Lupe.
Zwei Leserinnen, zwei Sichtweisen:
Olivia Grove ist begeistert von der Idee, bleibt aber vom nervigen Finale enttäuscht. Renate Müller dagegen kritisiert das Setting, die Figuren und die überzeichnete Dramatik.
Können Sie mit diesem Buch spannende Stunden verbringen, oder endet der Ausflug in den Nachtwald in einem literarischen Irrgarten? Lesen Sie weiter und entscheiden Sie selbst!
Rezension von Olivia Grove:
Slow-Burning Thriller mit aufgebläht nervigem Ende, das alles ruiniert
Die Idee hinter dieser Geschichte hat mich sofort gepackt, und das erste Kapitel zog mich hinein in einen elektrisierenden Lese-Sog. Ja, ich war komplett hooked, gehyped und so gespannt!
Doch je weiter ich las, desto mehr flaute die Begeisterung ab – die Handlung schlich voran wie ein müder Wanderer, und viele Interaktionen wirkten auf mich unrealistisch. Einige Dialoge klangen, als hätte jemand versucht, echte Gespräche zu imitieren, aber den Funken Leben vergessen.
Verpasste Chancen und Klischees
Lizzie, die Hauptfigur, war mein einziger Halt in diesem merkwürdigen Durcheinander. Sie war greifbar, echt, lebendig. Der Rest? Wie Puppen – fast roboterhaft, ohne echte Emotionen oder nachvollziehbare Entscheidungen, die sich an ihr Drehbuch klammern – steif, vorhersehbar, ohne Seele.
Die Geschichte hätte so viel mehr sein können. Stattdessen verfiel sie in bekannte Muster: eine zerrissene Familie, Kinder, die vor Wut kochen, und eine toxische Dynamik, die in Geheimnissen und Schweigen mündet.
Das enttäuschende Finale
„Nachtwald“ hätte das Zeug gehabt, wirklich zu glänzen, aber ab einem bestimmten Punkt der Auflösung hatte ich mit einem Schlag überhaupt keine Lust mehr weiterzulesen (überflogen habe ich es natürlich trotzdem).
Die letzten knapp 50 Seiten waren viel zu langatmig, erklärend, nervig und haben für mich persönlich alles ruiniert.
Zu oft dachte ich mir: Echt jetzt?
Am Ende hätte ich das Ende am liebsten übersprungen und hätte sicher nicht das Gefühl gehabt, wirklich viel verpasst zu haben.
Rückblick: Lizzies Suchtverhalten
Doch lass uns mal zurück zum Anfang gehen. Gleich zu Beginn ist mir etwas aufgefallen: Lizzie, frisch aus dem Entzug, muss die Hochzeit ihrer Mutter mit ihrer brandneuen Familie in einem alten Herrenhaus mitten im Wald feiern.
Was mich dabei besonders irritierte, war die Darstellung von Lizzies Suchtverhalten. Hier hätte ich mir definitiv mehr Feingefühl und eine sorgfältigere Recherche gewünscht, um diesen Aspekt realistischer und sensibler anzugehen. Stattdessen wirkt es eher klischeehaft.
Gerade der heutige Zeitgeist, in dem Suchtproblematiken in Filmen, Musik und Büchern überpräsent sind, verlangt nach mehr Tiefe und Lebensnähe.
„Früher hätte sie sich längst auf die Suche nach irgendwas gemacht. Vorzugsweise Alkohol, aber zu einem Joint oder Aufputschmitteln hätte sie auch nicht nein gesagt. Sie war nie wählerisch gewesen.“ (S. 80) – Ein Zitat, das erschreckend oberflächlich bleibt und die komplexen Dynamiken einer Sucht völlig ignoriert.
Süchtige haben meist eine klare „Substanz der Wahl“ und suchen gezielt nach spezifischen Effekten. Statt diese Realität authentisch darzustellen, bedient sich die Autorin des Klischees, dass Süchtige wahllos alles konsumieren – ungeachtet der völlig gegensätzlichen Wirkungsspektren von Alkohol, Cannabis oder Stimulanzien. Diese plakative Denkweise wird der Ernsthaftigkeit des Themas nicht gerecht und schwächt die Glaubwürdigkeit der Geschichte.
Fazit:
Wenn du bereit bist, all deine Überzeugungen über Bord zu werfen und einfach nur etwas lesen willst, das etwas Geheimnisvolles an sich hat, dann ist dieses Buch genau dein Ding.
Für mich allerdings hat das überladene, nervige Ende die Faszination dieses Nachtwaldes ruiniert.
Ein Slow-Burning Thriller, der stark beginnt, dann aber im Unterholz stecken bleibt.
Rezension von Renate Müller:
Mühsam auf Spannung getrimmter Krimi mit nicht überzeugenden Figuren
Familientreffen der besonderen Art: Claire hat neu geheiratet, und ihre Kinder Lizzie und Liam sowie Tochter Freya und Schwiegersohn Hudson ihres neuen Ehemannes George finden sich zu einem gemeinsamen Wochenende in einem (natürlich) völlig abgelegenen Herrenhaus ein.
Allein schon dieses mühevoll konstruierte Setting – ein renovierungsbedürftiges Haus mitten im Wald, ohne hinführende Straßen und selbstverständlich ohne Internet- oder Telefonanschluss oder Handynetz – steht bildhaft für den gesamten Roman.
Lizzie, aus deren Perspektive der Roman erzählt wird, hat eine Entziehungskur hinter sich, nachdem sie bekifft und betrunken Auto fuhr und einen Unfall baute, bei dem ihr jüngerer Bruder Liam leicht verletzt wurde (er hat lediglich eine kleine Narbe am Kinn). Dieser Unfall steht seither zwischen ihr und sowohl Bruder wie Mutter, die ihr beide stark misstrauen, insbesondere fehlt ihnen der Glaube, dass Lizzie inzwischen wirklich „trocken“ ist.
Das sind die Voraussetzungen, unter denen sie sich nun für ein verlängertes Wochenende im Haus des neuen Mannes ihrer Mutter einfinden. Das Haus ist alt und ständig renovierungsbedürftig und ist die absolute Leidenschaft von George, dem zweiten Mann von Claire. Ihr erster Mann und Vater von Lizzie und Liam, Declan, hat Selbstmord begangen und die Familie und seine Firma mit hohen Schulden zurückgelassen.
Außerdem am Wochenende dabei sind Freya, Georges Tochter, und ihr frisch angetrauter Ehemann Hudson, ein steinreicher Amerikaner. Weiterhin anwesend ist noch Mia, eine von Claire engagierte Köchin.
Doch am Abend des ersten Tages erscheint ein weiterer unangemeldeter und sehr unangenehmer Besucher. Er bedeutet für alle Anwesenden Schmerz, Wut und Chaos. So ist es kein Wunder, dass er am nächsten Morgen tot aufgefunden wird. Natürlich besteht keinerlei Möglichkeit, die Polizei zu rufen, da passenderweise auch noch das einzige verfügbare Gefährt, ein Quad, nur bedingt einsatzfähig ist.
Es kommt, wie es kommen muss: alle verdächtigen sich gegenseitig. Lizzie sucht nach Beweisen, dass George der Bösewicht ist, vor allem, um ihre Mutter davon zu überzeugen. Doch die Dinge liegen natürlich ganz anders, als sie glaubt.
All das wird zwar recht temporeich und mit reichlich Plot-Twists erzählt, aber ist dann doch viel zu überzeichnet. Vor allem das Verhalten von Lizzie ist völlig überzogen, sie ist permanent überdreht, hetzt von einer Ecke zur anderen, ändert ständig ihre Meinung über den oder die möglichen Täter, hat sogar ihren eigenen Bruder in Verdacht. So wirkt ihr Aktionismus, wirken die Beschreibungen ihrer Emotionen und Reaktionen geradezu überkandidelt, unrealistisch. Gerade diese Hektik macht all das unglaubwürdig.
Dass dann, als sich die Klimax nähert, natürlich auch noch ein Gewitter über alle hereinbricht, ist so ein Klischee, wie eigentlich der ganze Roman. Dessen Ende dann wiederum überdramatisiert ist, sodass es schon fast lächerlich wirkt.
Fazit: Ein als Thriller bezeichneter seichter Krimi, bei dem weder Handlung noch Charaktere oder deren Motive überzeugen.
Zwei kritische Perspektiven, ein Buch: Tríona Walshs „Nachtwald“ polarisiert.
Was denken Sie?
Hat „Nachtwald“ das Zeug, ein Must-Read zu sein, oder hätten Sie sich den Ausflug in den Nachtwald lieber gespart? Teilen Sie Ihre Meinung hier in den Kommentaren oder auf unseren Social-Media-Kanälen – wir sind gespannt!
Tríona Walsh: Nachtwald
Aus dem Englischen von Birgit Schmitz.
Fischer, November 2024
Klappenbroschur, 380 Seiten, 17,00 €
Diese Rezension wurde verfasst von Olivia Grove und Rena Müller.