Tess Gunty: Der Kaninchenstall

Die 30-jährige US-Amerikanerin Tess Gunty ist die Gewinnerin des National Book Award for Fiction 2022. Der mit 10.000 US-Dollar dotierte Preis wird seit 1950 jährlich vergeben. Mit ihrem Roman „The Rabbit Hutch“ wurde Guntys Debüt ausgezeichnet. Sie lebt und arbeitet in Los Angeles. Am 6. Juli 2023 veröffentlichte der Verlag Kiepenheuer & Witsch Tess Guntys Roman unter dem deutschen Titel „Der Kaninchenstall“. Sophie Zeitz übersetzte ihn aus dem Englischen.

Tiffany Watkins lebt in Vacca Vale, Indiana, in einem Apartmenthaus mit dem Namen La Lapinière Affordable Housing Complex. Vacca Vale ist eine Stadt im Rust Belt der Vereinigten Staaten von Amerika. Früher wurden hier Zorn-Autos hergestellt.

Inzwischen ist die Fabrik lange geschlossen, und die Stadt ist um Strukturwandel bemüht. Dazu zählt ein Stadtentwicklungsprojekt, bei dem das bisherige Naherholungsgebiet Chastity Valley bebaut werden soll. Tiffany, die sich Blandine nennt, liebt das Chastity Valley und protestiert auf ihre Art gegen das Projekt. Blandine liebt Hildegard von Bingen, die deutsche Äbtissin und Mystikerin, und studiert ihre Schriften. Nach einer Affäre mit ihrem Theaterlehrer James Yager verlässt Blandine das College und jobbt in einem Diner. Zusammen mit Todd, Malik und Jack, die wie Blandine in Pflegefamilien aufgewachsen sind, teilt sich Blandine eine Wohnung im „Kaninchenstall“. Irgendwann beginnen die Jungs Tiere zu töten. 

Joan Kowalski ist eine Nachbarin. Die Vierzigjährige arbeitet bei einem Internetportal und überprüft die Kommentare zu den veröffentlichten Nachrufen auf Beschimpfungen oder Kraftausdrücke. Dabei bekommt sie Ärger wegen eines Kommentars zu dem Nachruf auf die berühmte Schauspielerin Elsie Jane McLoughlin Blitz, die aus Vacca Vale stammt. Der Absender des Kommentars ist Moses Robert Blitz, Elsies Sohn. Moses malt seinen nackten Körper mit der Flüssigkeit aus Knicklichtern an und erschreckt dann Leute. Er leidet an Juckreiz durch Fasern in seiner Haut, ist dreiundfünfzig Jahr alt und schreibt einen Mental-Health-Blog.

Außerdem sind da noch die junge Mutter, die Angst vor den Augen ihres Babys hat und das ältere Ehepaar, Ida und Reggie, die eine tote Maus auf ihrem Balkon finden.

Blandine ist hochbegabt und hochsensibel. Sie und ihre Mitbewohner steuern unaufhaltsam einer Katastrophe entgegen.

Tess Gunty hat einen komplexen, modernen Roman geschrieben. Ihre Figuren sind eigenartig, skurril und besonders. Es ist die Geschichte einer maroden Stadt mit einsamen Menschen in prekären Lebensumständen. Gunty hat im „Kaninchenstall“ mit seinen dünnen Wänden gestörte Menschen in gestörten Beziehungen zusammengepfercht und lässt mich als Lesende schon mit dem ersten Satz das Unheil ahnen:

„In einer heißen Nacht verlässt Blandine Watkins in Apartment C4 ihren Körper.“ (S. 9)

Das omnipräsente Internet bekommt von Tess Gunty die Rolle des Symptomverschlimmerers verpasst. Egal ob es sich um Dating-Apps handelt, in denen Teenager ihre Körper für erwachsene Voyeure anbieten, oder um Mamablogs, die von den besten und glücklichsten Müttern der Welt erzählen. Gedruckt und gelesen wird die ganze Absurdität der Social-Media-Welt offenbar:

„16. Juli

puh weiß nicht, was ich sagen soll, dass »stillleben des todes« ist zu viel für mich puh huh ~ aber viel glück, schätze ich + toller tipp: stein schere papier!!!!!!!!! / / / hab ein schönes leben im jenseits elsie internationaler goldschatzzzzz

wesley sugar, poulsbo, washingtonnnnn“

Das ist gut gemacht von Gunty. Der Roman ist ein Feuerwerk, bei dem an jeder Ecke eine Rakete oder ein Böller gezündet wird. Verwirrend, aber auch beeindruckend. So benötigt „Der Kaninchenstall“ schon wegen der wechselnden Erzählperspektiven volle Konzentration, es ist kein Buch zum Nebenbei-Lesen. Tess Gunty jedoch behält den roten Faden durch die vielen Einzelheiten ihrer Geschichte souverän in der Hand und führt sie  (jedenfalls für einige ihrer Figuren) zu einem hoffnungsvollen Ende.

Das einzige, was ich ihrem Debütroman vorwerfen kann, ist, dass er übervoll an Inhalt, Charakteren und literarischen Stilen geworden ist. Und ich hoffe, dass Tess Gunty mit „Der Kaninchenstall“ noch nicht ihr ganzes Pulver an Ideen verschossen hat.

Tess Gunty: Der Kaninchenstall.
Aus dem Englischen von Sophie Zeitz.
Kiepenheuer & Witsch, Juli 2023.
416 Seiten, Hardcover, 25,00 Euro.

Diese Rezension wurde verfasst von Sabine Sürder.

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2 Kommentare zu “Tess Gunty: Der Kaninchenstall

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