Tatiana de Rosnay: Sarahs Schlüssel

Die Geschichte einer verdrängten französischen Schuld – einfühlsam und berührend

Auf zwei Zeitebenen erzählt die französische Autorin vom Schicksal eines kleinen jüdischen Mädchens während der deutschen Besatzung in Frankreich.

Sarah ist zehn Jahre alt, als die Deutschen ihre Familie deportieren wollen. Als die Männer sie und ihre Mutter abholen, versteckt das Mädchen ihren vierjährigen Bruder in einem Wandschrank, schließt ab und nimmt den Schlüssel mit sich. Sie glaubt daran, dass alles ein Missverständnis ist und sie bald zurückkommen wird.

Doch Sarah wird mit ihren Eltern erst in einem großen Stadion zusammen mit tausenden anderen Juden und Jüdinnen eingesperrt, ohne Essen und Trinken, und anschließend in ein Lager verbracht. Dort trennt man sie von ihrer Mutter. Nach Tagen und Wochen gelingt Sarah jedoch die Flucht, verzweifelt versucht sie, nach Paris zurückzukommen, immer noch hoffend, ihren Bruder zu retten.

Sechzig Jahre später plant die amerikanische Journalistin Julia, die mit dem französischen Architekten Bertrand verheiratet ist, in die ehemalige Wohnung von Sarahs Familie einzuziehen. Dort hatte bisher die Großmutter Bertrands gelebt, die nun in ein Heim ziehen musste. Durch Zufall erfährt Julia von der Vorgeschichte dieser Wohnung und beginnt zu recherchieren, auch weil sie für das Magazin, bei dem sie arbeitet, einen Bericht über dieses Stadion schreiben soll, um an die Ereignisse von damals zu erinnern.

Dabei stößt Julia immer wieder auf Ablehnung, die meisten Franzosen wollen nichts mehr davon wissen. Denn es waren französische Polizisten, die die Juden damals den Deutschen übergaben, es waren französische Nachbarn, die sie verrieten. Und auch in der eigenen Schwiegerfamilie wird Julia angefeindet wegen ihrer Nachforschungen, auch sie will nicht, dass die damaligen Ereignisse ans Licht kommen.

Auf diese Weise vermittelt die Verfasserin dieses berührenden Romans ihre Botschaft: Es geht um Schuld, um Aufarbeitung, um Wahrheit.

Mich hat dieser Roman sehr berührt, auch wenn ich die Geschichte bereits aus der Verfilmung des Buches kannte. Besonders der Teil, der die Erlebnisse Sarahs schildert, ist herzzerreißend, gerade auch aufgrund des angemessenen Tons und Schreibstils. Der Kniff, statt ihren Namen nur den Ausdruck „das Mädchen“ zu verwenden, schafft eine ganz eigene, bedrückende Atmosphäre.

Im Grunde wäre die Geschichte Sarahs allein einen Roman wert gewesen, hätte es die in Ich-Form geschriebene Rahmenhandlung um Julia und ihre persönlichen Probleme und Befindlichkeiten nicht gebraucht. Denn diese erscheinen geradezu belanglos im Vergleich mit dem Schicksal des kleinen jüdischen Mädchens. Auch gerade die ständigen überschwänglichen Beschreibungen ihres eigenen Aussehens und das ihrer Schwester oder ihrer Tochter stören ungemein.

Leider hören die Teile aus Sicht Sahras auf, nachdem sie zurückkam in die Wohnung. Ihr weiteres Schicksal erfährt man dann nur noch im Zuge von Julias weiteren Nachforschungen.

Insgesamt ist dieser Roman aber überzeugend in seiner Botschaft. Und allemal lesenswert.

Tatiana de Rosnay: Sarahs Schlüssel
aus dem Englischen von Angelika Kaps
Penguin, August 2023
Taschenbuch, 412 Seiten,  12,00 €

Diese Rezension wurde verfasst von Renate Müller.

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