Paul Lynch: Das Lied des Propheten

„Ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns.“ Dieses Zitat stammt von Franz Kafka. Es verwundert nicht, dass Paul Lynch, Booker Prize Träger 2023, in den Medien bisweilen als „Kafka dieses Jahrhunderts“ bezeichnet wird. Denn dieses Buch tut weh. Es erschüttert unser tiefstes Inneres von der ersten bis zur letzten Seite. Der vermeintlich dystopische Plot ist längst Realität, nicht im vermeintlich demokratischen Westeuropa, sondern in anderen Teilen der Erde, die man gemütlich ausblenden und wegzappen kann. Doch Lynch holt uns ein. Er transferiert die Schrecken von Diktatur und Fanatismus ins Irland der nahen Zukunft, mitten in die EU.

Hausbesuche ohne Wiederkehr? Ausgrenzung und Demütigung Andersdenkender? Straßenkämpfe, Folter, Tod, Zusammenbruch des Systems – bei uns in Europa nicht denkbar? Doch. Wie Paul Lynch den Schrecken eines autokratischen Systems über die Welt von Eilish und Larry Stark hereinbrechen lässt, ist ganz große Literatur. Sie sind aufgeklärte Menschen, die an die Vernunft glauben. Nur dass dieser Wert unter der tyrannischen, rechtsnationalen Regierungspartei eben nichts mehr wert ist.

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Isabel Bogdan: Der Pfau

Bei einem Banker-Teambuilding auf dem Landgut in den schottischen Highlands geht einiges schief. Ausgangspunkt ist ein verrückt gewordener Pfau, der alles angreift, was blau ist. Der resolute Vogel macht selbst vor Autos und Mode nicht Halt. Lord und Lady McIntosh, Besitzer des Landsitzes, müssen zu drastischen Mitteln greifen. Diese ziehen einen Rattenschwanz oder vielmehr ein Pfauenrad an kuriosen Missverständnissen und Vertuschungsaktionen nach sich.

Die Kölner Autorin Isabel Bogdan beweist einen feinen Humor. Ihr Romandebüt wurde erstmals 2016 aufgelegt und schaffte es damals auf die Shortlist zum Lieblingsbuch des unabhängigen Buchhandels. 2023 wurde das Buch mit renommierten Schauspielern wie Tom Schilling und David Kross verfilmt. Wer dieses großartige, amüsante Werk noch nicht kennt, hat jetzt in der Taschenbuchausgabe des KiWi-Verlags (mit stylishen, metallicblauen Pfau auf dem Cover), die Gelegenheit dazu!

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Miriam Böttger: Aus dem Haus

Lassen Sie sich vom Buchtitel nicht täuschen. In diesem urkomischen und gleichzeitig feinfühligem Debüt der ZDF-Journalistin Miriam Böttger geht es nicht etwa um Heranwachsende, die das Elternhaus verlassen. Ganz im Gegenteil. Im Mittelpunkt steht ein Best Ager Ehepaar, das sein Eigenheim verkauft. Eine Situation, die gleichfalls herbeigesehnt, wie gefürchtet wird. Einerseits machen die Eltern der Erzählerin das „Scheißhaus“ für all ihr Übel verantwortlich, das damit begann, vom sonnig-fröhlichen Weinheim ins betulich-kühle Kassel zu ziehen. Anderseits verfallen sie in panische Nostalgie, als der Umzug tatsächlich ansteht.

In ihrem Roman stellt die Autorin die oftmals mit „typisch deutsch“ assoziierte Charaktereigenschaft dar, das Glas stets halb leer, statt halb voll zu sehen. Und gleichzeitig doch nichts an den Umständen zu ändern, nach dem Motto: „Von zwei Möglichkeiten nehme ich das Übel, das ich zumindest schon kenne.“ Obwohl die Familie gut situiert ist und eigentlich alles hat, will sich kein echtes Glück einstellen.

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Alexa Hennig von Lange: Vielleicht können wir glücklich sein

Ein würdiger Abschluss der zu Herzen gehenden Trilogie. Der dritte Band gipfelt in emotionalen, ergreifenden Momenten. Schließlich begleiten wir Klara – ehemals Heimleiterin einer Ausbildungsstätte für sozial benachteiligte Mädchen, die kranke oder verwaiste Kinder pflegten – in den Beginn des 2. Weltkrieges. Diesen muss sie ohne Ehemann mit vier kleinen Kindern allein bewältigen. Wie schon in den Vorgängerbänden wird die Handlung zum Teil aus Sicht ihrer Enkeltochter Isabell erzählt, die nach dem Tod ihrer Großmutter Klara deren geheime Tonbandaufzeichnungen findet und dabei schrecklichen Familiengeheimnissen auf die Spur kommt.

Höhepunkt der ergreifen NS-Trilogie
Während ihr Ehemann Gustav, ein liebenswerter Lehrer, an die Front eingezogen wird, kämpft sich Klara durch den Kriegsalltag. Medikamente, Lebensmittel, Kleidung – es mangelt an allem. Immer mehr deutsche Städte werden durch Bombardements dem Erdboden gleich gemacht, die Alliierten preschen von allen Seiten vor. Obwohl der Krieg nicht mehr zu gewinnen ist, verheizt der Führer in einem letzten Aufbegehren sogar schon vierzehnjährige Kinder und alte Greise an der Front.

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Natalie Haynes: Goddesses: Die Macht der griechischen Göttinnen

Wie kommt es, dass die scheinbar rachsüchtige Hera so oft missverstanden wird? Warum wären Furien für die heutige Politiklandschaft wichtig? Was zeigt uns Athene über moderne Kriegstraumata? Warum galt ausgerechnet die jungfräuliche Artemis als eine Schutzgöttin der Geburt? Keine erzählt die jahrtausendealten Sagen der antiken Mythologie so neu, klug, gewitzt wie Natalie Haynes. Die englische Autorin, die in Cambridge Altphilologie studiert hat, lenkt den Blick auf die weibliche Perspektive. Auf Details, die Ihnen bislang entgangen sind. Sie legt uns eine andere Lesart des Geschriebenen aus der Feder von Homer, Ovid & Co nahe.

Ohne Ehemann tonangebend
Ihr immenses Wissen – gibt es eigentlich irgendwelche Statuen oder Bilder, welche Haynes nicht kennt? – paart sie mit persönlichen, ironischen Anmerkungen und transferiert den Kern von der Geschichte ins Hier und Heute. So folgen wir staunend den Göttinnen Hera (Götterkönigin), Aphrodite (Göttin der Schönheit, Lust und Liebe), Artemis (Göttin der Jagd, Waldtiere und des Mondes), Demeter (Göttin des Ackerbaus und der Fruchtbarkeit), Hestia (Göttin des Herdfeuers), Athene (Göttin der Weisheit, Schutzgöttin Athens), den neun Musen (zuständig für die schönen Künste rund um Tanz, Musik, Theater und Dichtung) und den drei Furien (Rachegöttinnen) durch ihre Geschichten.

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Otto Jägersberg: Abendblätter

Kurz und knackig auf den Punkt gebracht, aber mit viel Tiefgang. Abendblätter ist eine Mischung von Kurzgeschichten und Alltagsbeobachtungen, die bisweilen bis auf die Größe von Aphorismen verdichtet sind. In 134 Kapiteln verpackt Otto Jägersberg Buchtipps und Dichter, historische Anekdoten, Einblicke in seine Heimat im Schwarzwald und Kurioses aus dem Bereich des Zwischenmenschlichen. Keine Lust auf fette Schmöker? Dann ist diese Kürzest-Literatur, die Ihr Gehirnschmalz auf Trab hält und Ihnen dabei so manches Grinsen entlocken wird, genau das Richtige!

Die Zahnpasta als Metapher fürs Leben

Morgens beim Zähneputzen geht es los. Protagonistin Brigitte vergleicht ihr Leben mit der wurmartigen Geschmeidigkeit, mit welcher die Zahnpasta aus der Tube gedrückt wird. „So ist mein Leben, dachte sie. Da dreht einer, und ich gehe auf, ich gleite in den Tag. Wer aber dreht an ihr? Ihr Mann, die Kinder, Gott?“. Mit solchen Gedanken wird selbst ein bloßes Bad zum Blick in den Abgrund des Alltags. Mit nur sieben Sätzen schafft Jägersberg Szenen, die sich beim Lesen festsetzen. Sie muten harmlos an, bis sich der bittersüße Beigeschmack an die Oberfläche bahnt.

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Joseph Conrad: Herz der Finsternis (1899)

Des Menschen Gier ist unersättlich. Davon zeugt diese 1899 erstmals erschienene und nun bei Diogenes deluxe Verlag neu aufgelegte Geschichte von Joseph Conrad. Forscher, Goldsucher, Händler, Abenteurer – im Text beschönigend als „Pilger“ bezeichnet – ziehen in die Schwärze des afrikanischen Kontinents, immer weiter am Fluss Kongo entlang. Dort bringen sie nicht etwa den vermeintlichen Fortschritt, sondern schröpfen den Kontinent bis aufs Blut. Von Bodenschätzen über Elfenbein bis hin zu den Menschen, den Sklaven. Entrechtet, ausgebeutet, gefoltert, getötet: Diese von Conrad beschriebenen Szenen wirken bisweilen wie ein Fiebertraum, wie ein Delirium, erschreckend nah und distanziert-abgeklärt zugleich.

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JP O’Conell: Sommer im Hotel Portofino

Auch im zweiten Teil seiner Bandreihe rund um ein mondänes Hotel an der ligurischen Küste im Italien der 1920er Jahre mixt der britische Autor JP O’Connell einen literarischen Sommercocktail mit den richtigen Zutaten: verbotene Liebschaften aller Art, Fortschritt versus Faschismus, Bilderbuchlandschaften gepaart mit nostalgischem Chic. Plus Frauen, die sich emanzipieren und Männern, denen das zumeist gar nicht passt.

Das Jahrzehnt der 1920er Jahre ist wie geschaffen für spannende Storys voller Sprengstoffpotenzial, da sich die Welt zu dieser Zeit in verschiedene Richtungen entwickelt. Das Beispiel Italien zeigt dies besonders deutlich. Hier machen einerseits mondäne, weltoffene Menschen Urlaub, während sich im Hintergrund seit der Machtübernahme Mussolinis im Jahr 1922 bereits die ersten Schrecken des Faschismus zusammenbrauen. Frauen zelebrieren ihre neue Freiheit rund um Frauenwahlrecht und bejubeln Josephine Baker im Bananenröckchen, während die „Braunhemden“ ihnen nach und nach ihre Besitzansprüche entziehen wollen und sie lieber als Heimchen am Herd sehen. So ist der zweite Teil der „Downton Abbey“-ähnlichen Buchreihe noch spannender und tragischer. Für so manche/n Protagonist/in wartet kein Happy End hinter dem Sonnenuntergang! Weiterlesen

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Javier Zamora: Solito

Ein Buch, so schön und schrecklich, wie es nur das Leben selbst schreiben kann. In diesem herzergreifenden Roman, der unter anderem mit dem Los Angeles Times Book Prize ausgezeichnet wurde, nimmt uns Javier Zamora mit auf seine Flucht als Neunjähriger im Jahr 1999. Es geht von El Salvador Tausende von Kilometern nordwärts nach „La USA“, auf Booten, Trucks, zu Fuß durch die Wüste. Seine Flucht absolviert er auf sich gestellt, „solito“, ohne seine Eltern, die bereits in der USA auf ihn warten. Mit 40 anderen Personen und ein paar „Polleros“, alias Schleusern, beginnt eine beängstigende Odyssee. Unterwegs begegnet er Menschen, die es mal gut, mal schlecht mit den Migranten meinen. So ist Javier Zamoras literarisches Glanzstück ein Plädoyer für Menschenwürde, Zusammenhalt und Empathie. Extrem kraftvoll, ohne je kitschig zu sein.

Auf der Fluchtroute findet Javier eine neue „Ersatzfamilie“, zumal sich diese vor der Grenzschutzpolizei auch als solche ausgibt. Da ist Patricia, die sich mit ihrer 10-jährigen Tochter Carla zu ihrem Mann und ihrer jüngeren Tochter in die USA durchschlagen will. Da ist Chino, noch mit Akne übersät und gerade selbst erst den Kinderschuhen entwachsen, der unversehens in eine Vaterrolle hineinwächst. Er tröstet Javier, als ihm auf dem Boot schlecht wird, er trägt ihn durch die Wüste, als er nicht mehr laufen kann, er steht ihm im Gefängnis bei, während sich andere längst abgesetzt haben. So entstehen Bande, die übermenschliche Kräften verleihen, um Unmenschliches zu bezwingen.

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Eshkol Nevo: Trügerische Anziehung

Faszinierend, mehrdeutig und brillant geschrieben: Eshkol Nevos Prosa lässt auch nach dem Lesen noch lange nicht los. In drei Geschichten behandeln Themen rund um Liebe, Begehren, (Selbst-) Täuschung, Verlust. Nichts ist wie es scheint. Wer glaubt, den Plot einordnen zu können, sieht sich unverhofft mit einer neuen Ebene konfrontiert, die das Gelesene in ein neues Licht rückt. Daneben wirft der Autor ein vielschichtiges Bild auf das Leben im heutigen Israel zwischen Militärdienst, terroristischen Bedrohungen, Start-up-Stimmung und lebensfrohen Raves. Themen, die auf schmerzhafte Weise von der Realität eingeholt wurden.

Facetten der Liebe in drei faszinierenden Storys

In der ersten Geschichte zieht der 39-jährige Omri als Backpacker durch Bolivien, als Auszeit nach seiner Scheidung. Eine Aktivität, die Israelis normalerweise als „Jahr-nach-dem-Militärdienst“ unternehmen. Er trifft auf einer junges, frisch verheiratetes Ehepaar. Mit der Ehefrau Mor scheint etwas nicht zu stimmen, denn Flitterwochenglück sieht anders aus. Sofort fühlen sich die beiden zueinander hingezogen, auch dann, als Mors Ehemann auf mysteriöse Weise auf dem „Camino de los Muertos“ – der Straße der Toten – ums Leben kommt. Omri besucht Mor auf der Schi’wa, dem siebentägigen „Trauersitzen“. Eine tragische Beziehung nimmt ihren Lauf. Sind es wahre Gefühle oder benutzt die mysteriöse Mor Omri für eigene Zwecke?

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