Marie Benedict: Die einzige Frau im Raum

Es gibt Lichtgestalten in der Geschichte, die ihrer Zeit weit voraus sind. Helle Geister, mutige Vorreiter, Menschen mit erweitertem Horizont. Hedy Lamarr war so eine Gestalt. Unter diesem Namen machte sie in Hollywood Karriere und wurde in den 40er Jahren als schönste Frau der Welt gehandelt. Wohingegen wenig über Hedwig Kiesler, die interessantere Frau hinter der Rolle bekannt ist. Über die Erfinderin, die Widerstandskämpferin, das Genie. Hedwig Kiesler hätte vieles sein können. Wenn sie nicht jüdisch und vor allem keine Frau in den 1930er und 1940er Jahren gewesen wäre. Das Problem an Lichtgestalten ist häufig, dass sie zu Zeiten leuchten, in denen ringsum noch Dunkelheit herrscht. Weshalb sie selten ein glückliches Ende finden.

Hedy Lamarr: das schönste Genie der Geschichte

Heute halten wir täglich einen Gegenstand in den Händen, der ohne Lamarrs Erfindungen womöglich nie entwickelt worden wäre – das Smartphone. Ob GPS, WLAN oder Handy, sie alle arbeiten mit Teilen von Lamarrs Technologie zur Ermöglichung von Frequenzsprüngen.  Doch der Name Lamarr ist im Gegensatz zu den Gates, Hawkings und Einsteins dieser Welt aus der Geschichte verschwunden. Vielleicht weil sie eine Frau war? Kein Wunder, dass die US-Autorin Marie Benedict diesem schillernden Charakter in ihrer Romanreihe „Starke Frauen im Schatten der Weltgeschichte“ ein eigenes Buch gewidmet hat.

Der biografische Roman beginnt im Jahr 1933. Die erst 18-jährige Hedwig Kieseler erhält für Ihre Darstellung der „Sissi“ am Theater Standing Ovations. Eine Rehabilitierung. Schließlich hatten ihre Nacktszene und ihr dargestellte Orgasmus – der erste der Filmgeschichte – in „Ekstase“ für einen handfesten Skandal gesorgt. Hedwig stammt aus einer jüdischen Familie, der Vater Bankier, die Mutter ehemalige Konzertpianisten. Ihr Vater hatte schon früh Hedwigs wachen Verstand erkannt und sie in die Geheimnisse der Naturwissenschaft und Technik eingeweiht.

Gefeierte Schauspielerin und Ehefrau eines Waffenhändlers

Im Publikum sitzt Friedrich Mandl, ein glühender Verehrer, der ihr jeden Abend riesige Blumenbouquets zukommen lässt. Der Waffenproduzent und angeblich reichste Mann Österreichs pflegt Beziehungen zu Mussolini und will Österreich vor Hitlers Annektierung schützen. Obwohl wesentlich älter, geht Hedwig auf seine Avancen ein und willigt sogar in eine Hochzeit ein, auch wenn sie dafür die Schauspielerei aufgeben muss. Denn ihre Eltern sind der Meinung, dass nur ein derart mächtiger Mann sie vor den Repressalien und Gräueltaten der Nazis schützen kann. 

Doch die Ehe entpuppt sich als Alptraum, ihr Mann als eifersüchtig, gewalttätig und überdies opportunistisch. Immer öfters verkehren militärische Größen in den Schlössern und Landsitzen der Mandls. Die schöne Hedwig wohnt als dekoratives Objekt der Schönheit, als einzige Frau im Raum, vielen Gesprächen bei. Auf diese Weise erhält sie Insider-Informationen über militärische Geheimnisse, die sie sich später nach ihrer Flucht nach Amerika zunutze macht. Um eine bahnbrechende Erfindung zu konstruieren, die bei der Bekämpfung der Nazis helfen soll…

Sexismus im Hollywood der 1940er Jahre

Lamarrs Biografie liest sich einfach unglaublich. Als hätte man zehn Personen in einem Charakter verarbeitet. Dadurch kann die Autorin Marie Benedict viele Themen nur anreißen, muss Zeitsprünge einbauen und manches aus der historischen Perspektive heraus im Kontext erklären. Gleichzeitig ist Lamarr ein weiteres Best Case – oder vielmehr Worst Case – Beispiel für den allgegenwärtigen Sexismus in der Filmindustrie. Auch in Hollywood findet Hedy nicht die ersehnte Freiheit. Statt anspruchsvoller Theaterrollen kommen die Parts in ihren frühen Filmen einer Schaufensterpuppe gleich. Lange muss Lamarr um faire Bezahlung und bessere Charakterrollen kämpfen und sich in der Männerwelt der Filmbranche Respekt verschaffen. Was im Hollywood der 40er Jahre gang und gäbe war, stellt die heutige #MeToo Debatte nahezu in den Schatten. Junge, aufstrebende Schauspielerinnen gehen meist nur in Gruppen zu den berüchtigten Hollywoodpartys, um nicht als Freiwild zu enden.

So ist Lamarrs Biografie ein eindrucksvolles Beispiel für andere Frauen ihrer Zeit, die ähnliche biografische Hürden zu überwinden hatten. Dass Marylin Monroe anspruchsvolle Bücher wie James Joyce „Ulysses“ gelesen hat, wollte ihr damals niemand glauben. Gleichzeitig verweist Lamarrs Biografie auf all die Errungenschaften anderer Wissenschaftlerinnen und Erfinderinnen, deren Verdienste stets im Schatten der Männerwelt gestanden sind. Ihre Namen sind verlorengegangen, ihre Patente und Rechte von ihren Mitstreitern übergangen oder widerrechtlich angeeignet worden.

Vielschichtiger, faszinierender Charakter

Einziger Wermutstropfen: Das Buch endet im Jahr 1942. Diese Zeit hatte weitreichende Konsequenzen aufihr weiteres Leben. Denn trotz Schönheit und Intelligenz war Hedy Lamarr kein dauerhaftes Glück beschieden. Die Anerkennung ihrer Leistungen erfolgte spät, häufigpost mortem. Oder wussten Sie, dass der „Tag der Erfinder“ im deutschsprachigen Raum am 9. November zelebriert wird, dem Tag von Hedy Lamars Geburtstag?

Für all das findet der Roman keinen Platz mehr, was schade ist. Lamarr macht es durch ihre Komplexität und Vielschichtigkeit nicht einfach, ihr ganzes Leben in einen Roman zu pressen. Sie war vieles zugleich: Hollywoodschönheit, Erfinderin, Femme Fatale, Mutter, Geschäftsfrau, Jüdin, Österreicherin … Ihre Geschichte ist einzigartig und dabei doch so universell und aktuell wie nie zuvor. Eine einzige Frau im Raum kann mehr bewegen, als eine ganze Armee. Wie schön, dass Autorin Marie Benedict nach Frau Einstein, Lady Churchill und Frau Agatha Christie nun auch diesen schillernden Charakter aus dem Schatten der Weltgeschichte ins Rampenlicht geschrieben hat. Bitte mehr davon!

Marie Benedict: Die einzige Frau im Raum.
Aus dem Amerikanischen übersetzt von Marieke Heimburger.
Kiepenheuer & Witsch, April 2023.
304 Seiten, Taschenbuch, 17,00 Euro.

Diese Rezension wurde verfasst von Diana Wieser.

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