Tonio Schachinger: Echtzeitalter

Till sieht bei der Besichtigung des Wiener Internats Marianum nicht nur die großzügige Anlage, das pompöse Gebäude und die Nebengebäude oder die zahlreichen Sportstätten. Was er ganz bewusst wahrnimmt, sind die Mauern, die das Gelände umschließen. Für die luxusverwöhnten Kinder sind diese Mauern nur Kulisse, für Till bilden sie eine unüberwindbare Grenze, die ihm bis zum Matura die Freiheit nehmen wird. Seine Schulzeit wird eine Gefangenschaft, die viele Ängste erzeugt. Till ist wie alle anderen Klassenkameraden der 1b dem Klassenvorstand Dolinar und seinen Lauen ausgeliefert. Und hierbei spielt es keine Rolle, ob die Eltern reich und einflussreich sind oder über die bescheidenen Mittel seiner alleinerziehenden Mutter verfügen.

Bei einer Feierlichkeit redet der neue Direktor „… über Werte und darüber, dass die Kinder an dieser Schule mehr Zeit verbringen werden als mit ihrer Familie. Er sagt den Eltern, sie sollen nicht alles glauben, was ihre Kinder über die Schule erzählen werden, und im Gegenzug werde er nicht alles glauben, was die Kinder von zu Hause erzählen.“ (S. 315)

Tonio Schachinger studierte Germanistik und Sprachkunst in Wien. Sein Debüt Nicht wie ihr stand 2019 auf der Shortlist zum Deutschen Buchpreis. Während in seinem ersten Roman ein Ausnahmetalent im Fußball den Luxus genießt, erfährt Till die Schrecken der Schulzeit zwischen den verwöhnten Kindern reicher Eltern. Er glaubt, solange er unauffällig bliebe, könne ihm nichts passieren. Er glaubt, solange er in jeder freien Minute sein Lieblingsspiel AOE2 am Computer spiele, würde ihm dies helfen, den Schulalltag zu überleben. Es dauert eine Weile, bis Till begreift, dass er bei diesem Spiel zu den besten Gamern der Welt zählt. Dabei erlebt er „das unwahrscheinliche Überleben eines unwahrscheinlich guten Spiels“ (sh. Philipp Daum, die Zeit, 29. April 2023). Das Echtzeit-Strategiespiel Age of Empires II wurde 1999 von Microsoft Game Studios entwickelt und gibt thematisch das Mittelalter wieder.

Eigene Werte

Doch für den Dolinar stehen nur seine (!) eigenen Werte im Vordergrund. Mit allen Mitteln versucht er, Till und andere Jungen mit einem ausgeklügelten Strafsystem zu brechen. Auch die Hackordnung zwischen den Schülern bieten Till reichlich Stoff für weitere Ängste, bis ihm etwas Wundervolles passiert.

Tonio Schachinger schreibt spielerisch leicht über den Umgang mit Ängsten und wie ein Mensch seine Individualität in einem hierarchischen System der Unterdrückung behalten kann. Till gewinnt immer neue Erkenntnisse. Unter anderem liegt „… eine Freiheit darin, seine Ängste wahr werden zu sehen, denn Ängste, die wahr werden, hören auf, Ängste zu sein.“ (S. 322)

Bei der Lektüre passiert ganz viel. Sie weckt Erinnerungen, bestätigt verdrängte Ängste und schenkt darüber hinaus Einblicke in den Wiener Schmäh, den der Autor in feinste Literatur gepackt hat. Till bietet eine Projektionsfläche, die von Anfang bis Ende funktioniert. Und wenn man unaufhaltsam die letzten zwanzig Seiten ansteuert, will man einfach nur noch langsam, immer langsamer lesen, um so lange wie möglich in Tills Geschichte zu bleiben.

Tonio Schachinger: Echtzeitalter
Rowohlt, März 2023
386 Seiten, Hardcover, 24,00 Euro

Diese Rezension wurde verfasst von Sabine Bovenkerk-Müller.

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