Maria Borrély: Mistral

Die Natur bestimmt über das Leben in den kleinen Dörfern der Haute Provence und der Mistral gibt den Takt an. Er formt Bäume und Häuser, pfeift durch die Gassen und macht einen verrückt im Kopf. Dieser kalte Wind aus Norden vertreibt die Wolken, lässt Fensterläden schlagen und die Tiere unruhig werden. Die Menschen hier leben von der Landwirtschaft, ihre Tage sind angefüllt mit Arbeit.

Marie ist die älteste Tochter von Nourrine und Costant. Die Leute sagen, dass sie auch ihre liebste Tochter ist, denn sie ist schön und heiter und sie ist sich für keine Arbeit zu schade. Als sie Olivier zum ersten Mal sieht, weitet sich ihre Welt. Eine unbändige Sehnsucht ergreift Besitz von ihr. All ihr Denken und Fühlen ist auf den schönen, kräftigen jungen Mann gerichtet.

Eine zu Unrecht vergessene Autorin

Die französische Autorin Maria Borrély (1890 – 1963) lebte von 1918 bis 1933 in den kleinen Dorf Puimoisson in der Haute Provence und arbeitete dort als Lehrerin. Gemeinsam mit ihrem Mann war sie bestrebt, den Bewohnern der Bergdörfer die Begegnung mit Kultur zu ermöglichen und veranstaltet daher regelmäßig Lesungen mit verschiedenen Autoren.

Mistral ist ihr erster Roman. Er wurde auf Betreiben befreundeter Autoren 1930 bei Gallimard veröffentlicht, nach seinem Erscheinen allgemein gelobt und erschien auch zeitnah in deutscher Übersetzung. Die Autorin veröffentlichte zu Lebzeiten noch zwei weitere Romane, danach wurde es still um sie. Die Übersetzerin Amelie Thoma entdeckte schließlich in einer Bar in Puimoisson das Büchlein und die Lektüre begeisterte sie. Sie übersetzte den Text neu und stieß beim Kanon Verlag auf offene Ohren, was uns dankenswerterweise diese wunderbare deutsche Neuausgabe beschert.

Mit Worten malen

Die Handlung von „Mistral“ ist in eben jenem Puimoisson angesiedelt und basiert auf einer wahren Begebenheit. Die Geschichte der unglücklichen Liebe von Marie ist zugleich auch ein Gemälde des Landes. Maria Borrèly verstand es, mit Worten zu malen. Das Dorf mit den kleinen und teilweise windschiefen Häuschen ersteht vor meinem Auge ebenso wie die krummen Bäume. Ich finde mich im Kreis der Frauen beim Mandeln auspulen ein und sehe Marie grazil ihrer Arbeit nachgehen. Die Sprache Maria Borrélys ist voller Magie, unbestimmt und doch sehr genau, schwebend und doch dem Boden verhaftet:

„Ein flüssiger blauer Dunst benetzt den Hügel. Der Himmel hängt über der Erde, stromert durch die Felder, streift sacht den Steinhaufen, färbt die Baumkronen blau, frischt den Schatten der Zwergeichen auf. Er zerrinnt, destilliert, verliert sich schließlich ganz in diesem Feigengestrüpp.“ (S. 25)

Es ist ein Genuss, in solche Zeilen einzutauchen. Ich spüre die Verbundenheit zum Land und seinen Bewohnern und den Glauben an die Natur. Respekt und Lebensfreude und lebendige Bilder. Amelie Thoma hat tatsächlich einen Schatz entdeckt.

Maria Borrély: Mistral.
Aus dem Französischen übersetzt von Amelie Thoma
Kanon Verlag, März 2023.
128 Seiten, Gebunden, 20,00 Euro.

Diese Rezension wurde verfasst von Jana Jordan.

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