Banana Yoshimoto: Ein seltsamer Ort

Ein seltsamer Ort. Ein seltsames Buch. Das dürfte sich so manche Leser nach der Lektüre dieser 300 Seiten denken. Selbst die Autorin stellt im Nachwort klar, dass ihr Buch die Leserschaft spalten wird. In diejenigen, die es lieben und diejenigen, die es langweilig finden werden. Im Gegensatz zu anderen literarischen Fantasy-Spektakeln gibt es hier zwar übernatürliche Phänomene – auf Blut, Action oder Plot-Twists aller Art wird allerdings verzichtet. Die Protagonisten gleiten so sachte und unaufgeregt durch die Szenerie wie Wasser durch einen Feng-Shui Brunnen. Statt Schockmomenten warten Momente der Erkenntnis auf die überwiegend weiblichen Figuren. Weshalb Banana Yoshimoto ihr Werk lieber mit dem Label „Psychologischer Horror“ versehen möchte.

Den seltsamen Ort Fukiage an der japanischen Küste haben die beiden Zwillingsschwestern Mimi und Kodachi nach traumatischen Schicksalsschlägen verlassen, um in Tokio ein neues Leben zu beginnen. Ihre Eltern hatten einen schweren Verkehrsunfall, der Vater starb, die Mutter leidet seitdem an der „Schlafkrankheit“. Diese ist mehr als nur ein Koma, sondern befällt Menschen in der Gegend überdurchschnittlich oft. Sie kennt die Legenden. Dass in Fukiage der Durchgang zu einer anderen Dimension liegen soll. Dass die Großgrundbesitzer allesamt Außerirdische waren, die sich im Laufe der Zeit mit den Eingeborenen durchgemischt hatten. Dass sie seltsame Gebräuche pflegten wie den Leichenraub. Denn in ihrer Welt wurden die Verstorbenen als eine Art zombiemäßiger Arbeitstiere neu zusammengebaut und „weiterverwendet.“ Es gibt Gerüchte, dass auch ihre eigene Mutter eine Außerirdische sei.

In einer Art Zwischenwelt

Lange wollte Mimi von diesen Dingen nichts mehr wissen. Bis ihre Zwillingsschwester Kodachi in den Heimatort zurückkehrt, um ihre Mutter wieder ins Reich der Lebenden oder vielmehr Aufgewachten zurückzuholen. Seitdem ist sie verschwunden. Wie Wahrsagerinnen berichten, befindet sie sich in einer Art Zwischenwelt. Die besorgte Mimi reist ihr hinterher und begegnet im Ort ihrer Kindheit viel verborgene Schönheit unter allem Schrecken. Außergewöhnliche Menschen wie der „Grabwächter“, der überall in der Stadt selbstgepflückte Blumensträuße verteilt, werfen ein neues Licht auf die Vergangenheit. Dazu gehört auch Isamu, der direkte Nachfahre der außerirdischen Großgrundbesitzer mit dem Aussehen eines Tierwesens. Groß, haarig, furchterregend – dabei ist er bevorzugter Vegetarier. Er strebt nach Wiedergutmachung und Versöhnung. Zudem ist er heimlich in Kodachi verliebt.

Nach und nach stellt sich Mimi ihren verdrängten Gefühlen und ihrer Gabe des Traumsehens. Mittels philosophisch anmutender Dialoge und Überlegungen kommt es zur Annäherung zwischen Erdlingen und Außerirdischen. „An dem Ort, von dem ihr stammt, war die Weiterverwendung von Leichen bestimmt ein Vergehen weit minderen Grades als das, was wir hier mit Rindern, Schweinen oder Hühnern tun, nämlich sie töten und aufessen.“ (S. 185).

Auf die unaufgeregte, plätschernde Erzählweise sollte man sich beim Lesen einstellen können, damit die Worte ihre Schönheit entfalten können.  Der Roman von Banana Yoshimoto ist wie ein literarisches Feng-Shui. Sanft, harmonisch, ohne Ecken, Kanten, Cliffhanger.  Statt äußerer Action gibt es innere Einsichten. Die Autorin vermag ihren Stil am besten zu beschreiben mit den Worten: „Für die einen mag es bloß ein langer, geschwätziger Roman sein mit viel Dialog und kitschig-schmalziger Kulisse (…). Für die anderen aber scheint es eine Art Leitfaden für die gefahrenreiche Reise in das Universum des eigenen Inneren geworden zu sein – und genau so etwas wollte ich schreiben.“

Banana Yoshimoto: Ein seltsamer Ort.
Aus dem Japanischen von Annelise Ortmanns.
Diogenes, Mai 2023.
320 Seiten, Gebundene Ausgabe, 25,00 Euro.

Diese Rezension wurde verfasst von Diana Wieser.

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