Phantasmografisch. Befremdlich. Wuchtig. Dies sind nur ein paar der Attribute, die in Bezug auf Jonas Eikas Roman fallen. Sein Roman löst Staunen und Unbehagen aus, er fasziniert und irritiert zugleich. Der dänische Autor wurde für dieses Buch – bestehend aus vier Erzählungen – 2019 bereits mit dem Literaturpreis des Nordischen Rats ausgezeichnet. Zudem schaffte er es 2022 auf die Shortlist des Internationalen Buchpreises und erhielt eine Nominierung für den International Booker Prize.
Auf nur 155 Seiten prangert der dänische Autor politische und gesellschaftliche Missstände an. Und zwar auf eine metaphorische, phantastische Weise, die lange nachhallt. Zentrales Motiv ist die Frage, was das Menschsein ausmacht. Dies verdeutlicht er anhand verschiedenster Formen der Entmenschlichung. Was bleibt, wenn der Menschsich selbst verkaufen muss, aus dem gesellschaftlichen Raster fällt oder unter die Räder des Turbokapitalismus geraten ist?
Vier phantastische, bildgewaltige Erzählungen
Die erste Erzählung „Alvin“ beginnt der Autor mit einem Paukenschlag. Ein Banker reist nach Kopenhagen, steht aber vor dem GroundZero-ähnlichen Trümmerfeld der Bank, die urplötzlich in einem Krater versunken ist. Aus der Struktur des ihm bekannten Alltags geworfen, strauchelt der Banker durch Kopenhagen und lernt Alvin kennen, der mit Derivaten handelt. Ein grausames Finanzsystem, in dem man nur gewinnt, weil ein anderer verliert. Ein System, das Menschen zu Zahlen degradiert.
In der Erzählung „Rachel, Nevada“ ist ein Ehepaar in der gleichnamigen Stadt gestrandet. Nach dem frühen Krebstod der beiden Töchter, suchen die beiden Senioren nach Möglichkeiten, mit dem Verlust umzugehen. Wo das Menschsein an die Grenzen des Erträglichen gerät, wenden sie sich dem Übernatürlichen zu. Sei es Gott oder in diesem Fall außerirdischen Daseinsformen. Unweit der Area 51 mit ihren sagenumwobenen Ufo-Abstürzen schließt sich die Ehefrau einer Gruppe von Alien-Suchenden an, während ihr Ehemann in der Wüste ein merkwürdiges Gerät findet, dass zum Sprachrohr seiner eigenen, unverarbeiteten Schmerzen wird. Die metaphorische Ebene zwischen Dekonstruktion und Konstruktion lässt viele Deutungsebenen zu. Hier spielt der Autor die Bandbreite seiner bildgewaltigen Sprache aus.
Formen der Entmenschlichung
Die brutalsten Formen der modernen Entmenschlichung schildert der Autor zum einen in der Erzählung „Ich, Rory und Aurora“, in der eine junge Obdachlose sich als sexuelle Gespielin das Obdach eines Ehepaars sichert, das mit Drogen dealt. Noch drastischer fällt die Erzählung „Beach Boys“ aus. Diese erfüllen am Strand vom Cancún reichen Touristen nahezu jeden Wunsch. Ob Drinks, Sonnenschirm, Sonnencreme oder sexuelle Dienste. Am meisten verdienen sich jene, die als persönlicher Strandjunge exklusiv gebucht werden. „Ich rate, wo die Gäste herkommen und wie viel Geld sie haben, und dann imitiere ich die Bediensteten, die sie aus ihren eigenen Ländern kennen. Aber man muss sich innerlich vollkommen leer machen. Wenn man ihrem Bild entsprechen will, muss man sich selbst in ein Ding verwandeln.“ (S. 38). Eika offenbart, wie hinter denInstagram-affinen Sonnenuntergängen die Beach Boys zu Wegwerf-Boys werden, zu modernen Sklaven, die mittels übernatürlicher Rituale ihren eigenen Aufstand proben.
Mehrdeutige Erzählebenen
Was ist Traum, was ist Realität, was Subtext? In Eikas Erzählungen bricht das Phantastische so plötzlich und geradezu selbstverständlich über den Plot herein, dass man sich beim Lesen nie sicher sein kann. Strauchelnd lassen wir LeserInnen uns vom Sog der Geschichten mitreißen. Seine Bildwelten entführen in literarische Grenzregionen. Grell, bunt, überbordend.
Auffallend an Eikas Prosa ist auch die starke Sexualisierung. Als Gegenpol zur zunehmenden Entmenschlichung stellt er den Urtrieb des Menschen. Und zwar in allen Facetten, von hetero- und homosexuell über polygam bis hin zur Verschmelzung mit anderen Organismen und Spezies.
Fazit: Ein Buch wie eine Urgewalt. Als würde man zeitgleich einem Erdbeben, einer UFO-Sichtung, einem Tsunami und einer Nahtoderfahrung ausgesetzt. Eika als Sprach- und Weltenwandler versteht es, auf diesen 155 Seiten durchweg über Irritation Faszination zu erzeugen.
Jonas Eika: Nach der Sonne.
Aus dem Dänischen von Ursel Allenstein.
dtv, Mai 2023.
160 Seiten, Taschenbuch, 11,00 Euro.
Diese Rezension wurde verfasst von Diana Wieser.