Abdulrazak Gurnah verleiht der Region Sansibar eine literarische Stimme. Wenig ist über die Insel im Osten Afrikas bekannt. Das Schicksal der Nation ähnelt denen vieler afrikanischer Länder. Sklavenhandel, Besetzung durch Kolonialmächte, Revolutionen, Putschversuche und Unruhen nach der Unabhängigkeit von England, Vielvölkergemisch aus Afrikanern, Arabern, Indern, Europäern. Ein Land, das seine Zeit benötigt, um zu sich selbst zu finden. Menschen, die dies ihr Leben lang nicht schaffen. Zerrrissen zwischen Tradition und Moderne, zwischen Selbstverwirklichung und Selbstaufgabe, zwischen Liebe und familiären Erwartungen. In diesem meisterlich geschriebenen Roman zeichnet der Autor die Geschichte des Landes anhand eines Familienschicksal von den 1890er bis 1960er Jahren nach. Im Mittelpunkt steht eine tragische, verbotene Liebe.
Die literarische Stimme Sansibars
Alles beginnt mit einem fremden Mzungu, so das Wort für Weißer auf Swahili. Dieser wird völlig entkräftet von dem Kaufmann Hassanali gefunden, als dieser auf dem Weg ist, die Moschee zum Morgengebet zu öffnen. Er nimmt ihn zu sich nach Hause und pflegt ihn, bis der Fremde namens Pearce von anderen Engländern aufgenommen wird. Als Pearcewieder genesen ist, bedankt er sich bei Hassanali und seiner Familie für seine Rettung. Dabei trifft er auch auf Hassanalis blutjunge Frau Malika und seine rebellische Schwester Rehana. Eine Begegnung, die nicht ohne Folgen bleibt…
Diese Folgen bekommt vor allem Amin zu spüren, der 60 Jahre später auf Sansibar aufwächst. Während sein jüngerer Bruder Rashid als Träumer bekannt ist und die ältere Schwester Farida als „faul und dumm“ gilt, ruhen alle Hoffnungen der Familie auf dem vernünftigen, fleißigen Hoffnungsträger der Familie. Beide Eltern sind Lehrer, die Mutter hat sich ihr Recht auf Bildung hart erkämpft. Denn normalerweise werden Mädchen von der Schule genommen, sobald sie zu bluten beginnen, um sie zu „schützen“. Ausgerechnet Amin verliebt sich in schöne Jamila, die aus vielerlei Gründen für die Familie nicht in Frage kommt. Sie stammt zwar aus einer reichen Familie, ist aber von zweifelhafter Herkunft. Die Reichen scheinen über den Gesetzen des Korans zu stehen. Jamila ist geschieden, ihr werden Affären zugeschrieben und sie ist zudem älter als Amin. Amin muss sich entscheiden – und reibt sich bei seiner Entscheidung zwischen Gefühl und Verstand förmlich auf.
Gefangen zwischen Tradition und Moderne
Auch Amins Geschwister haben ihren eigenen Weg zu gehen und Schwierigkeiten, im Leben anzukommen. Rashid studiert in England und bleibt dort – obwohl er in den 1960er Jahren häufig rassistische Abwertung erfährt. Seine Eltern sind zwiegespalten. Einerseits sind sie stolz auf den erfolgreichen Sohn, welcher der der Armut des Heimatlandes entkommen ist. Eine Weiße soll er allerdings trotzdem nicht heiraten. Hilflos erfährt Rashid von Krankheiten in seiner Familie, die auf Sansibar nicht behandelt werden können, in England aber längst heilbar sind. Am Ende fließen die beiden Erzählstränge zusammen und Rashid glaubt, dass in einer Aufarbeitung der Familiengeschichte noch ein Funken Hoffnung für das Glück aller Beteiligten liegen könnte.
„Es ist eine Geschichte darüber, dass eine Geschichte viele Geschichten enthält und dass sie nicht uns gehören, sondern Teil der zufälligen Strömungen unserer Zeit sind. Und es ist eine Geschichte darüber, wie wir uns in Geschichten hineinverstricken und für alle Zeiten darin gefangen sind.“ (S. 182)
Nobelpreis für Literatur 2021
Die Stärke von Gurnahs Literatur liegt zum einen in seinem anschaulichen und mitreißenden Schreibstil. Er entführt uns in die geheimen Hinterhöfe, wo Frauen sie selbst ein dürfen und sich unbeschwerte Geschichten erzählen. Männer erzählen sich diese auf der anderen Seite des Hauses, in den Cafés und auf den Sitzbänken vor den Läden. Er führt uns die Enge der Gassen, die Hitze des Tages, den Zauber der Nächte vor Augen. Zum anderen besticht die Prosa des Autors durch ihre ausgewogene Erzählweise. Unabhängig von Hautfarbe und Religion, sind alle Seiten von Vorurteilen verblendet, was dauerhaftes Glück nahezu unmöglich macht.
„Indem wir uns damit einverstanden erklären, die Menschen in Schwarze und Weiße zu unterscheiden, erklären wir uns auch damit einverstanden, die Vielfalt an Möglichkeiten einzuschränken und die Verlogenheiten zu akzeptieren, die Jahrhunderte hindurch den primitiven Hunger nach Macht und die pathologische Sucht nach Selbstbestätigung genährt haben…“ (S. 331)
Abdulrazak Gurnah erhielt 2021 den Nobelpreis für Literatur. 1948 im Sultanat Sansibar geboren, lehrt er heute englische und postkoloniale Literatur an der Universität of Kent. Die Parallelen zu seiner eigenen Vita – der Plot ist aus Sicht des nach England ausgewanderten Rashid geschrieben – machen dieses Buch so nahbar und lebendig. Eine einfühlsame, bewegende Geschichte über ein Land, das eine literarische Stimme verdient hat.
Abdulrazak Gurnah: Die Abtrünnigen
Aus dem Englischen von Stefanie Schaffer-de Vries
Penguin, April 2023
400 Seiten, Gebundene Ausgabe, 26,00 Euro
Diese Rezension wurde verfasst von Diana Wieser.