Martin Suter: Melody

Mit Melody hat Autor Martin Suter eine elegante, geheimnisvolle Liebesgeschichte geschaffen: Tom Elmer, Langzeitstudent und Jurist, nimmt aufgrund von Geldproblemen einen ungewöhnlichen Job bei Alt-Nationalrat Dr. Stotz an: Er soll seinen Nachlass ordnen und den erfolgreichen Geschäftsmann und Politiker im besten Licht darstellen. Dafür zieht Tom sogar in die Villa des Arbeitgebers in Zürich. Hier steht in jedem Zimmer ein Bild von einer wunderschönen jungen Frau, arrangiert zu einer Art Schrein. Wer ist die geheimnisvolle Fremde?

Verbotene Liebe

Der gebrechliche Dr. Stotz erzählt Tom episodenartig von Melody, der tragischen Liebe seines Lebens. Die bildhübsche Buchhändlerin war zwanzig Jahre jünger als er und stammte aus einer marokkanischen Familie. Die war von der Verbindung zu einem Nicht-Muslim wenig angetan und drohte damit, sie zu verstoßen.

Wenige Tage vor der geplanten Hochzeit verschwand Melody spurlos. Ist sie von Ihrer Familie entführt oder gar beseitigt worden? Musste sie fliehen, um sich und ihren Verlobten zu schützen? Dr. Stotz, der als graue Eminenz und Strippenzieher stets im Lichte der Öffentlichkeit stand, verbringt den Rest seines Lebens damit, Melody zu suchen und sich als tragischen Liebenden darzustellen. Bald drehen sich die gemeinsamen Gespräche mit Tom nur noch um Melody. Hofft der im Sterben liegende Alt-Nationalrat, das Tom die Suche für ihn weiterführt?

Martin Suter: Alte Schule versus Generation Z

Der für seine Business-Class-Geschichten berühmt gewordene Autor Martin Suter aus Zürich führt in seiner Prosa zwei Männer verschiedener Generationen zusammen. Dr. Stotz, Gentleman und Machthaber ging auf die Militärschule, war Politiker, Geschäftsmann, Mäzen. Er ist erfolgreich, durchaus berechnend und darüber hinaus der Völlerei und den schönen Künsten zugetan. Dass ausgerechnet der Mann, der dem italienischen Essen und dem Alkohol verfallen ist, nun keinen Magen mehr hat, darf als Ironie des Schicksals verstanden werden.

Tom hat hingegen keine Lust auf Arbeit und würde am liebsten ewig weiterstudieren. Stattdessen interessiert er sich eher für die Bildung eines Sixpacks. Mit 30 Jahren hat er noch nichts erreicht und nimmt den Job eher notgedrungen an. Sein Liebesleben besteht aus unverbindlichen Freundschaft-Plus-Beziehungen. Trotz aller Gegensätzlichkeiten sind die Männer vom anderen fasziniert:
„Ich mag dich einfach. Du bist so anders als ich – verspielter. Nicht so ehrgeizig. So, wie ich es verpasst habe zu sein.“ (S. 186)

Elegante Prosa, maßgeschneiderte Sätze

Kamingespräche mit erlesenen Tropfen, maßgeschneiderte Garderobe, umfangreiche Bibliothek, geschmackvolle Villa: Erzählerisch fährt Suter wieder erstklassige Geschütze auf. Das Hochzeitskleid wird selbstverständlich in Paris designt, zur Selbstfindung reist man in die Wiege der Antike, nach Griechenland. Auch wenn es um die Liebe geht, schimmern Martin Suters Business-Class-Geschichten immer wieder durch.

Sein gebrechlicher Protagonist ist von einer machtvollen Aura des Unantastbaren umgeben. Er ist eine tonangebende Persönlichkeit. Doch genau darin liegt die Krux in der Biografie von Nationalrat Dr. Stotz. Trotz politischem Einfluss, Reichtum und all der Menschen, die er im Laufe der Zeit für seine Zwecke benutzt hat, konnte er doch den einen Menschen, den er am meisten liebte, nicht retten. Weder durch sein Geld, noch durch seine guten Beziehungen bis in höchste Diplomatenkreise.

Je länger Tom seinem Arbeitgeber lauscht, je mehr Menschen er zu Melody befragt, desto undurchsichtiger und vielschichtiger wird die vermeintliche Liebesgeschichte. Tom beschleicht das Gefühl, dass der alternde Mann ihm eine äußerst subjektive Version der Ereignisse zukommen lässt und ihm wichtige Details verschweigt.

Melody – die Wahrheit zwischen Schein, Sein, Selbstdarstellung

Wer belügt hier wen? Wer spielt ein doppeltes Spiel? Ist die Wahrheit im Spannungsfeld zwischen Liebe und Selbstliebe, zwischen Obsession und Eigendarstellung überhaupt noch ersichtlich? Kann sich das Ego der Liebe unterwerfen, auch wenn es davon Kratzer abbekommt? Anders ausgedrückt: „Wo die Unwahrheit es sich bequem gemacht hat, bringt die Wahrheit nur Unruhe.“ (S. 321)

In einem eleganten Verwirrspiel überschlagen sich die Ereignisse im dritten Teil der Geschichte und lassen das Erzählte in einem völlig neuen Licht erscheinen. Tom, bisher als Aktenableger und Zuhörer eher passiv verortet, geht nur zum aktiven Part der detektivischen Biographiearbeit über. Und zwar an der Seite von Laura, der unkonventionellen Nichte von Dr. Stotz.

Elegant wie eine Samtpfote schleicht sich der Plot von Martin Suter heran, um urplötzlich durch überraschende Wendungen und falsche Fährten an Dynamik aufzunehmen. Eine Moral von der Geschichte zwischen Schein und Sein vermeidet der Schweizer Autor bewusst. Wie schon ein chinesisches Sprichwort besagt: „Über Moral und Weisheit hat jeder seine eigene Ansicht. Der Fisch sieht sie von unten, der Vogel von oben.“

Martin Suter: Melody.
Diogenes, April 2023.
336 Seiten, Gebundene Ausgabe, 26,00 Euro.

Diese Rezension wurde verfasst von Diana Wieser.

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