John Irving: Der letzte Sessellift

Wenn man den neuen Roman von John Irving, Der letzte Sessellift heißt er, positiv sehen will, so kann man sagen: Er ist ein starkes Plädoyer für Toleranz gegenüber alternativen Lebensformen abseits der traditionellen Familie, für den Zusammenhalt von Menschen und für die Liebe. Homosexualität und Transgender-Themen spielen eine große Rolle. Der 1942 geborene amerikanische Autoren-Superstar bleibt seiner Linie treu, für die ihn seine Fans lieben: Sein Text, in dem der Sex eine hohen Stellenwert einnimmt, ist voll von skurrilen Figuren und Situationen, die oft zum Schreien komisch sind. Und sein Personal scheint ihm immer ans Herz gewachsen zu sein. Er stellt es durchweg positiv und mit viel Herzenswärme dar. Das alles macht seinen Roman sympathisch.

Ist man gegenüber diesem 1000-Seiten-Wälzer jedoch etwas negativer eingestellt, so lässt sich genauso gut sagen: Er steckt voller Wiederholungen, die es gelegentlich schwer machen, die lange Lesestrecke durchzuhalten. Eine Figur namens Elliot wandert gerne im Schnee – unzählige Male wird sie deshalb als „Schneeläufer“ bezeichnet. Irgendwann nervt’s. Auch kommt einem vieles bekannt vor – so, als hätte man es so oder so ähnlich schon in anderen Irving-Romanen gelesen.

Hauptfigur ist der Ich-Erzähler Adam Brewster, der viele Gemeinsamkeiten mit dem Autor hat. Er interessiert sich fürs Ringen und fürs Schreiben, wächst in Exeter auf und zieht in späteren Jahren nach Toronto/Kanada. John Irvings Technik – und das nicht nur in diesem Roman – scheint darin zu bestehen, autobiografische Elemente als Grundlage heranzuziehen, um sie dann ins Skurrile zu übersteigern.

Such nach leiblichem Vater

Adams Mutter ist lesbisch, hatte im Skiort Aspen lediglich ein einziges Mal Sex mit einem 14-jährigen Jungen, um ein Kind zu bekommen. Die Suche nach Adams Vater nimmt einen Großteil des Romans ein. Obwohl diese Mutter, eine begeisterte Skilehrerin, mit einer Frau zusammen ist, heiratet sie einen Mann, der sich jedoch als Transgender-Person entpuppt und im Laufe der Zeit immer mehr zur Frau wird. Wichtige Rollen nehmen auch Adams Cousine Nora und ihre Freundin Em ein. Letztere weigert sich zu sprechen. All diese Figuren – und noch ein paar mehr – bilden Adams große, unverbrüchlich zusammenhaltende Familie.

Leider entscheidet sich Irving dazu, zwei lange Kapitel, in denen es um die Suche nach Adam Brewsters Vater geht, in Drehbuchform zu schreiben. Das ist beim Lesen mit den permanent wechselnden Ortsangaben und Regieanweisungen nur schwer durchzuhalten, und ich habe mich dabei ertappt, manche Abschnitte nur querzulesen und Seiten zu überblättern. Irving hat bekanntlich im Jahr 2000 einen Oscar für das Drehbuch zu Gottes Werk und Teufels Beitrag erhalten – er weiß also, wie man gute Drehbücher schreibt. Aber Roman und Drehbuch in einem Werk zusammen – das passt nicht. Auch bevölkert eine Vielzahl von Geistern den Roman, obwohl er doch eigentlich gar nicht in die Genres Fantasy oder Mystery gehört. Ein etwas dosierterer Einsatz von Geistern hätte mir besser gefallen.

Auch ein politisches Buch

Der letzte Sessellift ist auch ein politisches Buch, das klar Stellung für die Demokraten in den USA und gegen die Republikaner bezieht. Es positioniert sich gegen Nixon, Reagan und Trump, gegen den Vietnam-Krieg und Reagans Tatenlosigkeit in Bezug auf Aids. Auch die Katholische Kirche mit ihrer Haltung gegen Abtreibung kommt nicht gut weg. Und es ist ein sehr emotionales Buch, was ich im Grunde positiv sehe. Gelegentlich kippt es jedoch ins Sentimentale, Rührselige ab – es wird viel geweint – auch hier wäre womöglich eine Zurücknahme ratsam gewesen.

Insgesamt bleibt nach der Lektüre dieses Mammutwerks also ein zwiespältiger Eindruck zurück. Müsste man Sterne vergeben, würde ich mich vielleicht für 3,5 von 5 entscheiden.

John Irving: Der letzte Sessellift.
Aus dem Amerikanischen übersetzt von Anna-Nina Kroll und Peter Torberg.
Diogenes, April 2023.
1088 Seiten, gebundene Ausgabe, 36 Euro.

Diese Rezension wurde verfasst von Andreas Schröter.

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