Im Roman „Mind Gap“ von Anne Freytag sind wir im Deutschland des Jahres 2033, alles ist nicht so weit von unserer Welt entfernt, aber inzwischen gibt es den NINK. Einen Chip, den sich jeder implementieren lassen kann (und will), jeder implementieren lassen soll und der das Leben ganz wunderbar vereinfachen soll. Denn er kann fast alles: Informationen recherchieren, bezahlen, Sprachen ins Gehirn implementieren.
Silvie Mankovitz ist erfolgreiche Journalistin. Vor zwei Jahren erhielt sie die Nachricht, dass ihr geliebter Bruder im Krieg gefallen ist, jetzt erhält sie seinen Anruf, er will sie treffen. Aber bevor das Treffen stattfinden kann, erhält sie Besuch: Man teilt ihr mit, dass ihr Bruder zwar bis vor kurzem nicht tot war, es jetzt aber trotzdem ist und bei seinem Suizid noch weitere Personen in den Tod gerissen hat, unter anderem den Kanzlerkandidaten. Silvie beginnt nachzuforschen.
„Mind Gap“ ist definitiv kein Wohlfühlroman. Er handelt von totaler Gedankenkontrolle. Der NINK kann nicht nur die Gedanken der Träger überwachen (was arme Arbeiterinnen im Süden er Erdkugel erledigen müssen – ein weiterer Zweig dieses Romans), sondern in seiner endgültigen Ausführung auch manipulieren. Silvie, die selbst aufgrund einer Erkrankung keinen NINK tragen kann, muss das am eigenen Leib erfahren.
Ihr Umfeld erinnert sich plötzlich nicht mehr daran, dass sie nach einer Erkrankung bereits in die Redaktion zurückgekehrt ist. Ihre Arbeiten gibt es einfach nicht mehr. Es klingt beängstigend und das ist es auch. Die menschliche Erinnerung ist ja ohnehin nicht besonders zuverlässig, aber wie muss sich das anfühlen, wenn man gar nichts mehr trauen kann, weil es dazu noch jederzeit von außen manipuliert werden kann.
Verschiedene Perspektiven
Anne Freytag hat den Roman aus verschiedenen Perspektiven geschrieben. Da ist natürlich Silvie, die als Ich-Erzählerin auftritt, alle anderen Perspektiven sind in der dritten Person gehalten. Der Leser wird nach Manila entführt, wo das Aussortieren der Social-Media in Sweat Factories passiert, von Arbeitern, die keine andere Möglichkeit zum Überleben sehen und die natürlich ihrerseits überwacht werden. Widerstand ist zwecklos. Wir erleben die hohe Politik in Deutschland und wie schön es für ehrgeizige Politiker wäre, wenn sie das Denken der Wähler einfach bestimmen könnten – der freie Wille nur noch Illusion wäre – also noch mehr, als er es ohnehin ist.
Und wir treffen den Erfinder des NINK, der inzwischen entsetzt über die Benutzung ist, sich aber nicht mehr wehren kann. Wir erfahren von den ersten Versuchen mit dem NINK, die an Soldaten durchgeführt wurden, an Silvies Bruder zum Beispiel. Ursprünglich sollten ihnen bei Kriegstraumata geholfen werden, eine durchaus lobenswerte Anwendung also. Bis jemand auf den Gedanken kam, dass man mit dem Ding ja noch viel mehr machen kann …
Der Roman ist trotz seiner Vielschichtigkeit durchweg spannend und schafft es irgendwie, von seinen Protagonisten immerhin weit genug wegzubleiben, dass der Leser noch in der Lage ist, mitzudenken. Anne Freytag balanciert hier sehr gelungen auf dem schmalen Grat zwischen emotionaler Mitnahme des Lesers und genug Distanz, um sich nicht einfach mitreißen zu lassen, sondern selber Schlüsse zu ziehen.
Anne Freytag: Mind Gap
DTV, Januar 2023
384 Seiten, Broschiert, 16,95 Euro
Diese Rezension wurde verfasst von Regina Lindemann.