Natalie Haynes: Die Heldinnen von Troja: A Thousand Ships

Der Kampf um Troja. Ein Epos um Krieger, Helden, Gier und Macht, durch und durch männlich.  Bis jetzt. Denn Natalie Haynes, „Rockstar der Mythologie“ und studierte Altphilologin aus Cambridge, lässt die 50 Prozent des 10-jährigen Krieges zu Wort kommen, die bislang als bloßes Beiwerk abgekanzelt wurden: Frauen. Das diese die wahren Heldinnen sind, verdeutlicht Haynes mit schonungsloser Brutalität.

Ausgangspunkt ist der Strand vor der völlig zerstörten Stadt Troja. Die Frauen der besiegten Königsfamilie und ihre Dienerinnen sehen einer schrecklichen Zukunft entgegen. Denn während ihren männlichen Familienmitgliedern der Gnade eines frühen Todes zuteil kam, geht ihr Martyrium erst richtig los. Als Kriegsbeute völlig entrechtet, werden sie unter den siegreichen griechischen Fürsten aufgeteilt, geschändet, in die Fremde entführt. Auch ihre Kinder werden versklavt oder direkt von der Stadtmauer geworfen.

Doch Haynes – und das macht die Kraft ihrer Prosa aus – belässt die Frauen nicht in der Opferrolle. Obwohl sie praktisch alles verloren haben, gelingt es manchen, an ihren Peinigern Rache zu nehmen, einen siegreichen Tod zu sterben oder sogar neue Dynastien zu gründen. Da gibt es außerdem die Seherin Cassandra und andere kluge Frauen, die den Krieg und Niedergang Trojas hätten verhindern können – wären sie nur von den männlichen Befehlshabern erhöht worden. Und es gibt die Ehefrauen der in den Krieg gezogenen Griechen, welche zuhause ihren „Mann stehen“ müssen, um zum Beispiel den Thron ihrer abwesenden Männer vor zudringlichen Freiern zu schützen.

Von der Geschichte vergessene Frauen

Die gezeichneten Frauenfiguren sind äußerst vielschichtig. Und selbst rege am Konflikt beteiligt. Wer trägt Schuld an Ausbruch des trojanischen Krieges? War es die schöne Helena, die mit Paris durchgebrannt ist? Sind es die Göttinnen Hera, Athene und Aphrodite, als sie über einen goldenen Apfel mit der Aufschrift „Für die Schönste“ in Streit geraten sind? Ist gar die Erdgöttin Gaia darin involviert? Oder waren es am Ende die gierigen Fürsten und Könige, die nur nach einem Vorwand suchten, um sich die Schätze Trojas unter den Nagel zu reißen? Ob Menschen oder Götter, Haynes zeichnet sie mit all ihren Schwächen und Stärken. Wobei insbesondere die jüngere Göttergeneration bisweilen wie triebgesteuerte Kleinkinder wirken, die mit Gefühlen wie Eifersucht und Geltungsdrang nicht umzugehen verstehen.

Achill, Odysseus, Paris, Agamemnon – diese Namen kennt jeder. Doch was ist mit Polyxena, Theano, Chryseis oder der Amazone Penthesilea? Wer weiß schon, welches Schicksal Andromache ereilte, nachdem ihr Ehemann Hektor getötet und Troja gefallen war? In kurzen Kapiteln werden ihre Geschichten erzählt, die ebenso faszinierend sind, wie das Geschehen auf dem Schlachtfeld. Frauen kämpfen anders – aber sie kämpfen.

(Anti-) Helden in modern interpretierter Mythologie

Natalie Haynes transportiert wie keine andere die Antike in die Neuzeit. Im ersten Band ihrer Sagenreihe „Stone Blind – der Blick der Medusa“ hat sie die Opfer-Täter-Perspektive um die Frau mit dem Schlangenhaar um 180 Grad gedreht und aus weiblicher Sicht geschildert. In diesem Buch vollzieht der Begriff „Heldentum“ eine radikale Kehrtwende. So flüstert die Muse der Dichtkunst, Kalliope, dem Verfasser des Epos ein: „Ist Oinone weniger heldenhaft als Menelaos? Er verliert seine Frau und hetzt eine ganze Armee auf, um sie zurückzuholen. Er löst einen Krieg aus, der unzählige Leben kosten und unzählige Witwen, Waisen und Sklavinnen zurücklassen wird. Oinone verliert ihren Mann und zieht alleine deren gemeinsamen Sohn groß. Was davon ist heldenhafter?“ (S. 217) Braucht es einen jahrtausendealten Plot in einer feministischen Neuversion? Unbedingt! Haynes Prosa ist heute wichtiger denn je. Ob an der Frontlinie oder bei Demonstrationen – an vielen Orten dieser Welt wachsen Frauen derzeit in Kriegen und Freiheitskämpfen über sich hinaus. Das haben sie schon immer. Aber nun werden sie endlich wahrgenommen. Haynes Neuerzählung ist ein ebenso wunderschönes wie brutales Epos, in das sie gekonnt gesellschaftliche Themen einbaut, die heute wie damals nichts an Aktualität verloren haben. Fesselnd, unterhaltsam, schonungslos und irisierend zugleich. Wie ein Sternbild am (literarischen) Himmel!

Natalie Haynes: Die Heldinnen von Troja – A Thousand Ships
Aus dem britischen Englisch von Lena Kraus.
dtv, Juni 2023.
416 Seiten, Taschenbuch, 14,95 Euro.

Diese Rezension wurde verfasst von Diana Wieser.

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