Wer kennt sie nicht, die Legende von Medusa, der Frau mit dem Schlangenhaar, deren Blick jeden Menschen sofort versteinert? Die von Perseus enthauptet wird, um mit Hilfe ihres Kopfes die schöne Andromeda vor einem Meeresungeheuer zu retten? Die studierte Altphilologin Natalie Haynes hat in England durch ihre populäre Aufbereitung antiker Sagen bereits Kultstatus erreicht. Ihr Anliegen laut Klappentext: „Ich denke ich schulde ihr einen Roman. Medusas Geschichte ist die eines Monsters, das kein Monster ist. Ich möchte Medusa ihre Stimme zurückgeben.“ Und beim Göttervater Zeus – das hat sie!
Der Autorin gelingt ein Bravourstück. Obwohl sie an den wesentlichen Handlungsabläufen nichts ändert, kommt allein durch den Perspektivwechsel mit der damit verbundene Täter-Opfer-Umkehr eine völlig andere, viel faszinierendere Geschichte heraus. Natalie Haynes rockt das Ding. Sie macht die jahrtausendealte Story so brandaktuell, vielschichtig, feministisch und bisweilen sogar höchst amüsant (Haynes ist auch als Komikerin tätig) wie nie zuvor!
Schöne Jungfrauen haben es in der Antike sehr schwer. Ständig stellen ihnen lüsterne Götter nach. Mal verführen sie die Auserkorene mittels Täuschung und Verwandlung. Mal werden die wehrhaften Exemplare vergewaltigt oder bestraft. Danae, von Zeus in Form eines „goldenen Regens“ beglückt, gebiert Perseus, der als junger Mann dem finsteren Herrscher das Haupt der Medusa bringen soll, wenn er das Leben seiner Mutter retten will. Medusa wird hingegen als jüngste, schönste und vor allem sterbliche Schwester von den beiden älteren Gorgonenschwestern aufgezogen. Sie verbringt eine glückliche Kindheit, bis sie als junge Frau vom Meeresgott Poseidon im Tempel der Athene vergewaltigt wird. Die Göttin ist daraufhin so erbost, dass sie Medusa verwandelt – in das Monster, das wir kennen. So weit, so gut. Doch Haynes dreht die Perspektive um 180 Grad! Medusa gibt sich Poseidon als Opfer hin, um ein paar Menschenfrauen zu verschonen. Nach ihrer Verwandlung verbindet sie sich freiwillig die Augen. Perseus hingegen ist nicht der strahlende Held, sondern ein 16-jähriger großspuriger Teenager, der sich als unfähiger Jammerlappen entpuppt undständig auf Zeus Hilfe angewiesen ist. Schlimmer noch: Perseus ist brutal und nutzt die Macht des Medusenhauptes schonungslos aus. Da sieht man den Medusa-Mythos mit ganz anderen Augen!
Auch sonst dürfte so manchen Antike-Liebhaber bei dieser Lektüre die Kinnlade herunterfallen. Haynes schafft es famos, ihre Protagonisten modern und nahbar zu gestalten. Kassiopeia wirkt wie ein alterndes Model, dass seine Popularität über die Vermarktung der ebenso schönen Tochter aufrechterhalten will. Die macht- und sexgierigen Götterväter mit Neigung zu Tobsuchtsanfällen rufen ungute Assoziationen zu diversen (Ex-) Regierungsoberhäuptern zwischen Washington und Moskau hervor. Perseus ist das Ebenbild eines tumben 16-jährigen, der ein Computerspiel nicht von der Wirklichkeit unterscheiden kann. Kopfgeburt Athene, ebenso schlau wie bösartig, entspricht dem heutigen Pendant eines verwöhnten Eliteinternats-Auswurfsübereifriger Helikoptereltern.Die Gorgonen erfahren „Bodyshaming“, Hephaistos (Gott der Schmiede mit einem Hinkefuß) hadert mit der Inklusion im Olymp. Jahrtausende sind vergangen, doch verändert hat sich zwischen Himmel und Erdepraktisch nichts!
Noch dazu steckt zwischen den Zeilen viel Subtext. MeToo, Femizide, Jugendwahn, Angst vor dem Andersartigen, Opportunismus, Kolonialismus… und viele alte, weiße Männer in Machtpositionen, die diese missbrauchen. Stilistisch bringt die Autorin jede Menge Drive in den Plot, bedingt durch ständige Erzählwechsel. Die Kapitel werden abwechselnd aus Sicht von Göttern, Nymphen, Tieren und Sterblichen beschrieben. Am Ende richtet sogar Georgoneion, der Medusenkopf, das Wort an die Leserschaft.Trotz all der Dramatik – ein „Happy End“ besteht in der griechischen Sage meist darin, dass der Gelynchte, Vergiftete, dem Wahnsinn Verfallene etc. als Sternbild an den Himmel gesetzt wird – bringt Haynes mitunter viel lakonischen Witz ins Spiel. Insbesondere um Schlüsselfigur Perseus ins Lächerliche zu ziehen.
Fazit: Beim Zeus, was für eine literarische Überraschung! Modern, aufwühlend, gewitzt und aus einer ganz anderen Perspektive betrachtet, bringt uns Natalie Haynes die bekannte griechische Sage näher. Wie schön, dass ihre nächsten Bücher beim dtv Verlag schon in der Pipeline stehen. Dieses Buch hat mehr Suchtpotenzial als griechischer Wein und Ouzo zusammen!
Natalie Haynes: Stone Blind: Der Blick der Medusa.
dtv, Februar 2023.
384 Seiten, Gebundene Ausgabe, 24,00 Euro.
Diese Rezension wurde verfasst von Diana Wieser.
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