Natalie Haynes: Die Kinder der Jokaste

Bekannte Sagen, zeitgemäß interpretiert: Keine macht das so gekonnt, so überraschend, so mitreißend, wie die in Cambridge studierte Altphilologin Natalie Haynes. Auch in ihrem dritten Roman erzählt sie ein bekanntes antikes Stück aus der weiblichen Sicht nach. Wie nötig dieser Perspektivwechsel ist, beweist allein schon der Titel. Sagt Ihnen der Name Jokaste etwas? Nein? Vielleicht klingelt es beim Namen Ödipus? Na bitte! Jokaste ist die Königin von Theben, die Ehefrau und vermeintliche Mutter des Ödipus (nachdem der gleichnamige „Komplex“ benannt wurde). Obwohl sie in dem Konflikt eine ebenso große, wenn nicht sogar noch größere Rolle spielt, kennt die Leserschaft meist nur die männliche Sichtweise des vermeintlichen Helden. Bis jetzt.

Antike Sage aus weiblicher Perspektive

Weil Frauen in antiken Sagen viel zu selten zu Wort kommen, nimmt Natalie Haynes gleich die Perspektive von zwei Protagonistinnen ein. Sie erzählt die Vergangenheit und Gegenwart in wechselnden Kapiteln aus der Sicht von Jokaste und ihrer jüngsten Tochter Ismene, zu Beginn des jeweiligen Plots beide 15 Jahre alt. Jokaste wird von ihren ehrgeizigen Eltern zur Ehe mit Thebens König Laios gezwungen. Der betagte König braucht dringend einen Thronerben. Was Jokaste allerdings nicht weiß: Zum einen will Laios den Job nicht selber erledigen, da er seinem eigenen Geschlecht zugetan ist. Zum anderen wünscht sich Kreon eine Tochter, keinen Sohn. Denn ein Orakel hat ihm geweissagt, dass er einmal von seinem eigenen Sohn getötet werden wird. Jokaste wird tatsächlich schwanger, verliert aber ihr Kind bei der Geburt. Jahrelang in Kummer gefangen, findet Jokaste erst 16 Jahre später zu ihrer eigenen Stärke, nach dem Tod ihres Ehemannes, der Besteigung des Throns und nachdem ein junger Bote namens Ödipus in ihr Leben getreten ist… 

Was ist dran am Ödipus-Komplex?

Eine Generation später – Jokaste und Ödipus sind längst unter sagenumwobenen Umständen ums Leben gekommen – wird auf Jokastes jüngste Tochter Ismene ein Anschlag verübt. Steckt eine Intrige dahinter, im Kampf um die Herrschaft? Das Königshaus Theben gilt mittlerweile als von den Göttern verflucht. Um diesen Fluch abzumildern, teilen sich die beiden Brüder Polyn und Eteo den Thron und regieren jeweils ein Jahr lang im Wechsel. Im Hintergrund mischt ihr Onkel Kreon mit. Ihre schöne Schwester Antigone scheint sich mehr mit Äußerlichkeiten und Liebschaften als mit Politik zu beschäftigen. Ismene kann sich als jüngstes der vier Kinder mit den geistigen Dingen und den Schriften ihres Lehrers Sophon beschäftigen. Als sich die Ereignisse nach dem Mordanschlag überschlagen und in weiteren Bluttaten münden, ist es Ismene, die einem schrecklichen Geheimnis der Vergangenheit auf die Spur kommt. Und die ihrer Schwester Antigone dabei helfen muss, sich ihrerseits zu emanzipieren.

Weniger göttlich, mehr menschlich

Frauen an die Macht! Führt dies zur Entmystifizierung der antiken Sagenwelt? Nein, im Gegenteil: Natalie Haynes stülpt den literarischen Sagen keine feministische Sichtweise über, sondern schreibt eine Prosa, die viel näher an der Realität verortet ist. Sie legt den Fokus auf das Menschliche, nicht auf die Launen der vermeintlichen Götterwelt. Gier, Macht, Liebe, Hass, Verrat, Neid, Schuld, Sehnsucht, Gerechtigkeit, Moral – diese Werte sind elementar und erwachsen bei Haynes Figuren aus der eigenen Erkenntnis statt aus schicksalhaften Fügungen (welche natürlich nie ganz ausgeschlossen werden können). In Haynes Roman „Stone Blind – Der Blick der Medusa“ bleibt die Autorin noch im Fantastischen, Götter und Gorgonen werden wortwörtlich umgesetzt. In diesem Roman gibt es hingegen für die schreckliche, menschenfressende Sphinx – im Original ein Mischwesen aus geflügelten Löwenkörper und Frauenkopf –eine reale Erklärung. So könnte es wirklich gewesen sein! Dies macht ihren Plot nahbarer, emotionaler, griffiger.

Retelling: ererbte Traumata statt Schicksal

Auch in ihrem dritten Band nach „Die Heldinnen von Troja“ schafft es die Autorin wieder gekonnt, nichts Wesentliches an der Sagen-Vorlage zu verändern und sich dabei doch einige künstlerische Freiheiten herauszunehmen. Zumal es neben dem berühmten Theaterstück aus Sophokles Feder mehrere Varianten desselben Mythos gibt. In Haynes Version werden mal Personen in ihrer Funktionsweise „gedreht“ oder dazuerfunden, wie der Lehrer und Heiler Sophon, als Stimme des aufgeklärten Zeitalters.

Sehr hilfreich ist das Nachwort der Autorin, in der sie viele Hintergrundinformationen liefert und auf die Unterschiede zwischen Original und ihrer Geschichte eingeht. Hierbei wird Erstaunliches zutage befördert. Motto: Selbst Tragödien können glücklich enden (wenn man nach dem Abspann nicht gleich aufspringt, sondern weiter hinschaut).

Fazit: Die antike Mythologie emanzipiert sich! Weg von vermeintlichen Stereotypen, hin zu vielschichtigen Charakteren. Mit literarischer Selbstsicherheit balanciert Autorin und Altphilologin Natalie Haynes auf dem Grat zwischen historischer Vorlage und moderner Neuinterpretation. Wenn Sie sich nichts mehr von Aristoteles, Homer & weiteren „alten, weißen Männern“ über die Antike diktieren lassen wollen, dann entdecken Sie die fantastische Sagenwelt aus einem vielschichtigen, weiblichen Blickwinkel. Dysfunktionale Beziehungen und ererbte Familientraumata statt göttlicher Willkür machen dieses „Retelling“ wesentlich spannender und zugänglicher. Bewertung: 10 von 10 Punkte plus einen goldenen Lorbeerkranz.

Natalie Haynes: Die Kinder der Jokaste.
Aus dem Englischen von Lena Kraus.
dtv, Januar 2024.
400 Seiten, Taschenbuch, 14,00 Euro.

Diese Rezension wurde verfasst von Diana Wieser.

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