Packende Biografie des charismatischen ukrainischen Präsidenten
Der Mann ist ein Phänomen und die Meinungen über ihn gehen sicher weit auseinander. Dieses Buch erzählt seine Geschichte und beleuchtet seinen Charakter, sein Agieren und seine Entscheidungen, natürlich insbesondere vor dem Hintergrund des derzeitigen Krieges.
Der Autor Simon Shuster ist Korrespondent des Time Magazine und hatte die Möglichkeit, Wolodymyr Selenskyj über viele Jahre zu begleiten, zu beobachten und so entstand dieses ungemein spannende Buch. Shuster ist in Russland geboren und kam als Kind in die USA. Seit Jahren lebt er immer wieder auch längere Zeit in Kyjiw, seit der Annexion der Krim 2014 berichtet er regelmäßig aus der Ukraine.
Ich habe dieses Buch verschlungen wie einen Thriller, es ist spannend, faszinierend, informativ, emotional und unheimlich nah dran an dem Menschen Selenskyj und den aktuellen Ereignissen.
Sehr geschickt verwebt der Autor die Berichte der politischen und kriegerischen Vorkommnisse mit Rückblicken auf den Werdegang des ukrainischen Präsidenten, von der Kindheit in einem Problemviertel seiner Geburtsstadt über die Karriere als Comedian und Produzent, als Schauspieler und schließlich als Politiker. Immer wieder hatte Shuster Gelegenheit, den Präsidenten direkt zu interviewen, er konnte mit Olena Selenska, der First Lady, sprechen. Er hatte Kontakt zur Führungsriege der Ukraine, hatte Einblick in die Vorgänge seit 2014.
So berichtet und vor allem erklärt er wunderbar verständlich von den unterschiedlichen Strömungen im Land, die je nachdem näher zur EU und zur NATO oder doch mehr nach Russland tendieren. Er macht die widerstreitenden Gefühle und Ansichten, die Motive und Gründe sicht- und fühlbar. Und Shuster gelingt es, die Kräfte zu zeigen, die Wolodymyr Selenskyj antreiben, die ihm Kraft geben, die aber auch zugleich vielleicht einmal seine Schwäche sein werden.
Das Buch wechselt zwischen Hintergrundinformation und Wissensvermittlung einerseits und Emotionen und sehr individuellen Geschichten andererseits. Aufgrund der, zumindest anfangs, täglichen Berichte vom Kriegsgeschehen in der Ukraine erinnert man sich bei der Lektüre des Buchs automatisch an die Bilder, die Bilder aus Butscha, aus Mariupol, aus Odessa oder Charkiw.
Sogar bis ins direkte Kriegsgebiet begleitete Shuster den Präsidenten, er sprach mit führenden Generälen, mit Ministern und Beamten, mit ukrainischen Journalisten und Soldaten.
In der Mitte des Buchs befinden sich zahlreiche Fotos aus dem Leben Selenskyjs. Gerade sie machen die dramatische Veränderung dieses Mannes deutlich, zeigen sie in jeder Falte seines Gesichts.
Das Buch von Simon Shuster ist nicht objektiv, denn er verurteilt ganz eindeutig den Angriff durch Russland. Aber es ist objektiv genug, den Präsident mit all seinen guten und weniger guten Eigenschaften, seinen Stärken und Schwächen zu zeigen. Genau das macht dieses Buch so überraschend, so berührend und so wichtig.
Dieses Buch muss man einfach gelesen haben. Unbedingt.
Simon Shuster: Vor den Augen der Welt
aus dem amerikanischen Englisch von Henning Dedekind, Karsten Petersen und Thomas Stauder
Goldmann, Januar 2024
Gebundene Ausgabe, 526 Seiten, 26,00 €
Diese Rezension wurde verfasst von Renate Müller.