…. „vermute ich, dass jemand den Augapfel einfach aufgestochen und dann die Masse rausgedrückt hat. Danach kann man den Sehnerv und die Augenmuskeln zum Beispiel mit einer kleinen Schere durchtrennen. …“
Wenn das für Sie zuviel ist, dann sollten Sie es sich überlegen, ob Sie diesen Krimi wirklich lesen möchten. Andererseits, wenn Sie bis hierhin gekommen sind, haben Sie schon 65 Seiten gelesen. Oder verschlungen. Aus der Hand legen, fällt schwer, wenn man erst mal angefangen hat. Finde ich. Zimperlich ist sie nicht in ihren Beschreibungen, das muss man der Autorin lassen! Aber ihr Stil ist schnörkellos, fesselnd und die Story von den ersten Seiten an packend. Und Beschreibungen wie die oben zitierte kommen dann auch eher nicht mehr vor.
Es muss etwas Gravierendes gewesen sein, das Carla Seidel, Kriminalhauptkommissarin aus Hamburg ins Wendland verschlagen hat – und dann noch als einfache „Dorfpolizistin“ nach Danneberg. Wer macht das freiwillig? Und mit einer 17-jährigen Tochter, die doch bestimmt lieber in der Stadt leben würde als auf dem platten Land? In Randbemerkungen, Nebensätzen, Erinnerungsfetzen erfahren wir so nach und nach, was Carla und Lana veranlasst hat, die Großstadt zu verlassen. Carla findet sich mehr oder weniger ab mit Knöllchen und kleinen Delikten, Lana ist verschlossen, eine Einzelgängerin, aber nicht unbeliebt an der neuen Schule.
Sie haben sich recht gut eingelebt in ihrem gemütlichen Haus, haben ein gutes Verhältnis zueinander und vermissen Hamburg eigentlich nicht. Allerdings lebt Carla sichtlich auf, als sie dann doch wieder einmal in einem Mordfall ermitteln kann. Gemeinsam mit ihrem zunächst scheinbar etwas lahmen Danneberger Vorgesetzten wird sie, weil sie „Vorkenntnisse in Mordermittlungen“ hat, einer Soko zugeteilt, die den Mord an Justus aufklären soll. Der 17-jährige Justus war von seinen Eltern als vermisst gemeldet worden, nachdem er drei Tage lang nicht aufgetaucht war. Wenig später wird seine Leiche gefunden. Der junge Leiter der Soko in Lüneburg ist zwar ein arroganter Kotzbrocken, aber der Rest des Teams ist in Ordnung und froh, Clara dabei zu haben. „Glückliche Umstände“ erledigen das mit dem arroganten Jungspund dann auch erstmal und Carla wird die Leitung der Soko übertragen. Ihr Team in Danneberg wie auch in Lüneburg unterstützt sie voll und ganz, auch wenn sie ihnen einiges abverlangt an Einsatz und Überstunden, gestrichenem Wochenende und spontanen Eingebungen!
So ganz nebenbei und eher heimlich unterstützt Lana die Ermittlungen ihrer Mutter, auch wenn sie dafür ziemlich weit über ihren Schatten springen muss. Der Fall „Justus“ lässt sie nicht los. Sie will mehr über den etwa gleichaltrigen Jungen erfahren. Clara zweifelt an der Darstellung der Mutter, dass Justus ein feingeistiger, „lieber Junge“ war. Das Verhalten des Vaters irritiert sie zudem – er scheint von der Todesnachricht keineswegs erschüttert zu sein, sondern geht sofort zum normalen Tagesgeschäft über. Irgendetwas stimmt hier nicht! Lana ist es schließlich, die einige Wahrheiten über Justus ans Licht bringt und Carla damit entscheidend weiterhilft. Die Fassade bröckelt.
Der erste Fall für Carla Seidel ist ein richtig guter, fesselnder Krimi. Keine Schnörkel, keine allzu verschlungenen oder verworrenen Ermittlungsstränge. Klar strukturiert, pointiert und packend. Sia Piontek hat ein richtig gutes Krimidebüt geschafft.
Sia Piontek: Die Sehenden und die Toten
Goldmann, Mai 2024
410 Seiten, Taschenbuch, 17,00 Euro
Diese Rezension wurde verfasst von Sabine Ertz.