Annie Ernaux: Eine Leidenschaft

Im Jahr 2022 wurde Annie Ernaux der Literaturnobelpreis verliehen.

Ihre zweiundzwanzig Bücher sind autobiografisch geprägt und in über sechzig Sprachen übersetzt.

In Eine Leidenschaft beschreibt sie das bedingungslose Verzehren nach einem Mann, einer Affäre, die über zwei Jahre andauerte und an Selbstaufgabe grenzte. Alles bündelt sich für wenige Stunden, an unbestimmten Tagen, im gegenseitigen körperlichen Begehren. Die Tage dazwischen lechzt die Ich-Erzählerin unter Sehnsuchtsängsten und seelischen Qualen dem nächsten Treffen entgegen.

Es ist keine Verbindung für eine gemeinsame Zukunft. Ihr Liebhaber ist verheiratet, lebt in Osteuropa und kommt nur geschäftlich gelegentlich nach Paris. Ein kurzer Aufenthalt, bei dem sie sich treffen. Ihre Unterhaltungen sind unbedeutend, eher oberflächlich. Ihr Treffen ist die Erfüllung ihrer Sehnsucht und bedingungslose Hingabe. Die Zeit dazwischen nichts als schmerzhafte Entbehrung. Nichts in der Welt hat noch irgendeine Bedeutung außer ihrer Zweisamkeit. Ihr gesamtes Leben ist nur auf diesen Mann fixiert. Nichts außer ihrer überbordenden Liebe für ihren Liebhaber hat noch irgendeine Bedeutung. Ihr Leben ist in einem Kokon gefangen, aus dem es kein Entkommen gibt.

Annie Ernaux‘ Schreiben ist das schmerzhafte Schürfen in einem Gefühlsknoten, der sich nicht entwirren lässt. Dabei stülpt sie das Innerste nach außen, ohne Obszönitäten. Ihre Worte zeigen Bilder, Gesten, die die gelebte Leidenschaft gleich einer luxuriösen Kostbarkeit nicht treffender aufzeigen könnten.

In unserem Leselustportal sind seit 2018 vier weitere Bücher von Annie Ernaux besprochen worden:

Erinnerung eines Mädchens

Eine Frau

Der Platz

Der junge Mann

Annie Ernaux‘ Schreiben ist nüchtern, realistisch und trifft dabei mitten ins Herz. Fast löst die beim Lesen erlebte Mitwisserschaft dieser direkten und schonungslosen Gefühlspreisgabe eine Art Betroffenheit aus.

Annie Ernaux: Eine Leidenschaft.
aus dem Französischen von Sonja Finck.
Suhrkamp, Juni 2024.
gebundene Ausgabe, 80 Seiten, 20,00 Euro.

Diese Rezension wurde verfasst von Annegret Glock.

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